Frühling 1942

Simferopol, den 21. März 1942, 23 Uhr

Gestern Nachmittag trafen wir über Dshankoj am Rande von Simferopol ein.

Der Frühling ist vorbei. Es ist eisig kalt, der Ostwind bläst mit Macht. An den wenigen Bäumen, Mandeln und Pfirsichen, sind die zum Platzen prallen Knospen dick mit Eis überzogen. Man friert selbst in der Zugmaschine. Wir sind bald auf der Höhe von Genua, und es ist Winter, wie wir ihn in Rußland bisher nicht erlebten.

Die Batterie kommt in einem Kinderheim unter. Blanke Dielen, klapprige Türen, keine Öfen, Zentralheizung funktioniert natürlich nicht, kein Fenster ist ganz. Draußen stehen Holzgebäude einer ehemaligen Hühnerfarm. Die werden bald verheizt sein. Die Leute frieren die Nacht hindurch. Einmal brennt ein Zimmer.

Wir bewohnen inmitten der Stadt, in einer Offiziersunterkunft ein sauberes Zimmer. Aber kühl.

Abends im Soldatenheim im Kreise der Offiziere der Abteilung und neuer Rotkreuzschwestern aus Kärnten, von der Mosel und aus Berlin. Gattung nicht toll, aber nett.

Heute Vormittag erscheint unser alter Lt. Siegel zu Besuch, freudige Begrüßung und kräftiger Trunk. Seine Batterie ist schon eingesetzt, und er muß noch hier sitzen.

Nachmittag, mit 2 LKW hole ich Stroh. 52 km gegen Jewpatorija, dann rechts ab, frei nach Schnauze, nach 6 km ein Dorf. Dort gibt’s endlich was. Der Kauf ist mehr ein Raub, denn ein Geschäft.

Es ist noch immer bitter kalt, aber strahlende Sonne. Ein paar Hühner müssen auch dran glauben.

Wie ich auf dieser Fahrt sah, gibt es auch in Rußland Asphaltstraßen.

Wir sind jetzt 650 km durch Rußland gezogen, immer durch weites, flachwelliges Land, ohne Baum und ohne Strauch, grenzenlos und öde. Zum ersten Mal sehen wir Hügel, die Ausläufer des Jaila-Gebirges. Auch kahl und trostlos, aber immerhin an manchen Hängen Wein und Obstbäume. – Von Blumengärten aber sah man noch nie eine Spur.

Simferopol, den 22. März 1942, 17:30 Uhr

Aus einer Kradfahrt zur Erkundung von Übungsgelände sah ich in leichtem Dunst die herrlichen Nordhänge des Jaila-Gebirges, tief verschneit.

In der Stadt herrscht die tatarische Bevölkerung vor: Schwarz, dunkle Augen, dunkle Haut, gebogene Nasen, schmale Gesichter, dadurch scheiden sie sich wesentlich von den sonstigen Russen.

Simferopol, den 25. März 1942, 17:15 Uhr

Endlich strömt die Post, endlich Briefe von zu Hause, von Hanna. Da erscheint die Welt noch lichter.

Gestern wurden wir gegen Typhus geimpft. Heute bin ich so gut wie krank: zerschlagen, Kopfweh, Schüttelfrost. Der Dienst kann nicht darunter leiden.

All die Tage herrscht des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr über uns. Werfer- und Batterietruppausbildung, Übungen im Verband, Infanterismus, alles beinahe wie in der Kaserne.

Es ist kühl und windig. Ich sitze am Fenster und sehe im Abenddämmern das Jaila-Gebirge liegen.

Simferopol, den 29. März 1942, 19:30 Uhr

Der Frühling will sich durchsetzen. Er hat’s noch schwer. Wir gehen aber schon ohne Mantel. – Die Post stockt wieder. Seit einigen Tagen nichts, nur gestern einen Brief von Peter Niemand: Unser alter, lieber, prachtvoller Chef, Olt. Dithmar, ist gefallen. Das hat mich sehr ergriffen. Ich habe noch selten einen Offizier so geschätzt wie ihn.

Gestern neues Quartier bezogen bei einer russischen, “unpolitischen” Familie. Nett und sauber, kahl und ungemütlich. Er spricht einigermaßen gut Deutsch, Ingenieur, Spezialist hieß das bei den Russen, und grüßt mit dem “Deutschen Gruß”. Abends war ich zum Tee geladen.

In seiner Kammer wurde Krim-Wein ausgeschenkt. Er ist noch köstlich. Ich nannte ihn “Spitzenschwein”, weil er das Lexikon so gut benutzte.

Jede Nacht kommen Flieger und legen Minen. In der vergangenen schlugen von diesen Dingern 100 m vom Munitionslager unserer sichtbaren Kolonne ein. Ob sie uns erkannt haben? Die Fahrzeuge stehen in dem kahlen Gelände wie auf dem Präsentierteller.

Simferopol, den 1. April 1942, 17:30 Uhr

Die Tage ziehen hin, und es ereignet sich nichts. Es sei denn, daß vor zwei Tagen der Frühlingshauch jäh von Schnee und Kälte unterbrochen wurde. Der Schnee ist weg, die Kälte hält an. Die Post kommt wieder nur stoßweise, d. h. alle paar Tage. Weihnachtszeit für alle Leute der Abteilung wiegt vor.

Heute Offiziersbesprechung beim Regimentskommandeur, Oberst K. Viele bekannte Gesichter: Körner, Heinze, Lauer, bärtig, alle aus Gelb bekannt. Von unserem Offizierlehrgang ist der erste schon gefallen, Lt. Kramaschek.

Vorführung von Schanzarbeiten für unsere Werfer, die es bei der unangenehm kurzen Schußentfernung nötig haben. Sache war sehr gut gemacht und anregend. – Wir sollen sowohl gegen Kertsch als auch gegen Sewastopol eingesetzt werden. Die Batterien arbeiten längst und haben schon die ersten “Erfahrungen” und Verluste. Eine Batterie wurde eine Viertelstunde vor dem Schuß von einem Panzerangriff überrascht. Gegen sowas sind unsere Werfer nicht geeignet. Das Gerät ist hin.

Simferopol, den 4. April 1942, 22 Uhr

Es passiert gar nichts, was als kriegerisch anzusehen wäre. Scharfschießen mit Gewehr und Handgranaten, Abteilungsrahmenübungen (ich als Batteriechef) sind die hervorstechenden Ereignisse der letzten April-Tage.

Heute erfahre ich, daß mich meine Mutter reklamiert hat. Es ist das Letztliche ein Angriff gegen meine Ehre. Soll ich mich an die Rockschöße meiner Mutter flüchten, während vor 25 Jahren mein Vater fiel und in diesem Krieg meine besten Kameraden blieben?

Simferopol, den 6. April 1942, 20 Uhr

Gestern wurde mein Dienstnachbar von der 7. Batterie, Lt. Hauser, alarmiert, mußte sofort mit Waffen und leichtem Gepäck zur Abteilung. Streng geheim. Ich übernahm seine Vertretung, Rückkehr blieb unbestimmt und nebenbei geheim. Einsatzvorbereitung? Ich war wirklich gespannt.

Lt. Rodenkirchen, ein Kölner reinen Wassers, wurde zum Olt. befördert, und Lt. H., von dem bekannt ist, daß er seine Beförderung allzu sehnsüchtig erwartet, wurde auf diese Weise veräppelt.

Draußen im Gelände findet man viel rotes Propagandamaterial aller Art. Zum Teil ist es recht geschickt, zum Teil plump. Meist läuft es auf “Nieder mit Hitler, dem Arbeitermörder” hinaus, und auf die Aufforderung zum Überlaufen. Die Landser lachen darüber.

Die einen Flugblätter fußen auf der Kriegslage, sprechen von unserem Winterrückzug, auf ihre Weise ausgeschlachtet, und kommen zum Schluß, daß der Krieg für uns aussichtslos sei. Die anderen nehmen sich die Generäle aufs Korn, die Todesfälle (v. Reichennau), Krankheiten (Brauchisch) und Verwundungen (von Bock).

All unsere Begründungen sind natürlich Krampf, im Hintergrund stehen Himmler und Gestapo. Andere nehmen sich den Führer vor und zeigen ihn im Bilde in verfänglichen Situationen weiblicher Art (technisch gute, psychologisch schlechte Montagen), oft mit verstörtem Seelentypen im “aristokratischen” Stil, stets im Gegensatz zu seinen Generalen.

Wir sollen demnächst gegen Kertsch eingesetzt werden. Viel kilometerweite Ebene und unsere kurze Schußentfernung – bestens! Das gibt Verlustziele, die man uns ersparen könnte, zumal wir auch noch gegen Sewastopol sollen.

Simferopol, den 12. April 1942, 18:45 Uhr

Ich unterschreibe, daß es mein freier Wille und Entschluß ist, bei der kämpfenden Truppe zu bleiben. Der Mutter Antrag ist damit hinfällig. So leicht, wie es scheint, fiel es mir nicht. Der Entschluß ist doch ein sehr ernstes Ding, wenn man dabei an eine sorgende Mutter denkt, an eine geliebte Frau und ganz, ganz liebreizende Kinder. Aber es ist die Ehre und die Suche nach den letzten Dingen des Lebens, Schicksal und Gott.

Vor einigen Jahren schrieb ich in einem Artikel über “Ehre, Wesen und Auftrag”: Wenn irgendwo der Ruf laut wird “Freiwillige vor!”, so gilt er der LAH. Was liegt näher, als daß ich aus meiner großen Klappe von einst nun die Folgerungen ziehe?

So meldete ich mich zur Erkundung unserer Feuerstellungen für unseren endlichen Einsatz. Der Lagenkarte nach ist dieser ein Himmelfahrtskommando. Morgen geht’s an die Front.

Feodosia, den 14. April 1942, 20 Uhr

Herrliche Fahrt unter strahlender Sonne, die 120 km von Simferopol. Gute Straße, Berge und Hügel, enge Serpentinen. Manchmal schauen die Berge aus wie die um Jena. Kein Fahrer, der einmal vor 10 Jahren durch diese Stadt walzte, stimmt dem zu.

Feodosia, zum dritten Mal in unserer Hand, hat stark gelitten, wenige Häuser sind ganz intakt geblieben. – Eine Villa im orientalischen Stil fällt mir auf. Sie hatte einst wunderbare Räume, geschmackvoll bunt, Kamine, schwere Türen, riesige Fenster mit dem Blick auf das Meer, einer Aussicht sturmischer Mittelart (kitschi). Heute trägt sie die Spuren der Verwüstung. Schutt und Glasscherben, Unrat und Papier aller Orten. – Sie gehörte einst einem Zigaretten-Millionär. Weitere Paläste, ganz eigenartig anmutend in diesem Land, fallen an der Uferstraße auf. In ihren Gärten hat sich die FAK eingerichtet zur Abwehr Richtung Meer.

Nachmittag Vorerkundung in Daln. Kamyschi mit Olt. Woljerthun, H. Klein und Gunditz. Vor einer Höhe steigen wir aus dem Wagen, um zu Fuß durch den feindbesetzten Raum zu pilgern. Nach wenigen Minuten zischt es furchtbar, und wir liegen zum ersten Mal in diesem Einsatz im Graben. Das wiederholt sich.

Vorbesprechungen bei der Infanterie: Einweisung in Stellungen und Taktik durch Hptm. Schürdt, Bataillonskommandeur. Ein prächtiger Kerl, schlichter Mann. – Das Dorf sieht trostlos aus und ist doch dicht belegt. Möglich, daß der Russe sein Feuer über das Ganze schüttet, mit Artillerie aller Kaliber, Granatwerfern, oft auch Bomben gegen Artilleriestellungen. Aber es geht.

Abends wieder in Feodosia. Offiziere des Hauptquartiers samt Oberleutnants in einem LKW, auf blankem Lehmboden bei Kerzenschein. Nebenan kampiert das “Truppenregiment”, jener klassische Fall von “denkste”.

Feodosia, den 15. April 1942, 18 Uhr

Im ersten Morgengrauen nach den “Silos” nördlich von Daln. Kamyschi. Dort führt die ehemalige Anglo-Ind. Telegrafenleitung vorbei.

Ein Zug Infanterie liegt oben unter der Erde in einem Holzbunker. Ihr Leutnant zeigt uns eingehend Lage und Stellung. – Die Feuerstellung, die wir für uns erkunden, ist böse. Links Sumpf, besser nasse Wiese, über die russische Spähtrupps und Überläufer bis zum Bauch im Wasser waten. Die Wiese ist an dieser Stelle 1600 m breit, jenseits stehen die Russen. Vorne 1000 m die vorderste Linie. Von rechts sieht uns die russische Artillerie in den Laden. – Anmarsch über 1200 m deckungsloses, eingesehenes Gelände. Also Arbeit nur des Nachts möglich und im letzten Dämmern des Tages und im ersten des Morgens. Schanzen schwer, zähes Gemisch von Löß und Lehm. Das kann nur beurteilen, wer es kennt. – Im Licht des frühen Tages rasen wir über den Hang zurück ins Dorf, über das Trichterfeld, durch den tief aufgeweichten Dreck. Stahlhelm schief auf dem Kopf, damit das linke Ohr feindwärts frei wird, um die Geschosse zu hören. Wir haben unglaubliches Schwein: Kein Schuß.

Bericht beim Oberst. – Tagsüber Nichtstun und ein Auge voll Schlaf.

Gegen Abend erfahren wir, daß diese Stellung eine andere Abteilung bezieht. Unsere ist noch böser.

Simferopol, den 16. April 1942, 16 Uhr

Um Mitternacht Kommando der “anderen” Abteilung in die Geheimnisse der erkundeten Stellung eingewiesen. Auf Straße dicht hinter der Front Rückweg ins Dorf. Nichts rührt sich, nur Leuchtkugeln steigen in kurzen Intervallen hoch und erleichtern die Orientierung, als wir die sog. Straße verlassen.

Rückkehr nach S., Bericht bei Major und Chef.

Simferopol, den 18. April 1942, 18 Uhr

Oberst Niemann hat sich lobend über unsere Erkundungsarbeit geäußert. Wie ich mich fühle.

Vorbereitungen. Die in 4 Wochen auf Hochglanz gepflegten Fahrzeuge werden mit Lehm beschmiert.

Eine Flut von Päckchen mit Zigaretten und Gebäck trifft ein. Herrlich!

Simferopol, den 19. April 1942, 11 Uhr

Ein Wetter zum Sündigen. – Allerorten werden die Fernsprechleitungen abgebaut. Symptom größeren Aufbruchs.

Draußen steht die Abteilung zum Feldgottesdienst. – Der unchristliche Bekennertrotz ist angesichts des nahen Einsatzes gering. Ich bin aus der Batterie der einzige, der nicht teilnimmt.

Brief zu meines Töchterchens erstem Geburtstag. Die Sehnsucht ist stark.

Simferopol, den 23. April 1942, 13 Uhr

Es ist zum Kotzen. Nun soll ich während der Offensive auf der Halbinsel Kertsch Führerreserve spielen und das Restkommando allhier kommandieren.

Alles eine Folge des unseligen Briefes meiner Mutter. Nun habe ich zu nichts mehr Lust und mag mich vor Scham bei der Batterie gar nicht mehr sehen lassen.

Was mütterliche Liebe doch für Unheil anrichten kann.

Simferopol, den 26. April 1942, 19 Uhr

Die Führerrede war von einem unerhörten Ernst getragen, wie die Lage überhaupt ernst ist. Die Rede hat bei manchem Herrn schöne Illusionen zerstört. Bei uns nicht. Ich hatte keine.

Simferopol, den 2. Mai 1942, 12 Uhr

Der Mai ist gekommen und mit ihm der Befehl zum Aufbruch. Es geht los. Die Abteilung rückt ab, viele sind schon vorne. Die Batterien marschieren heute Abend. Nur ich bin verurteilt und muß meine 150 Mann Restkommando verarzten. Ein schreckliches Geschick.

Heute las ich die neue Verlustliste. Lt. Brunner, alter Gefährte aus Celle und Bremen, gefallen, Lt. Gebezettl, Celle, verwundet. Lt. Marschhausen, seine Batterie in Bremen. Ich übernahm im November seinen Zug, Nervenzusammenbruch und Selbstmord. Er war ein junger, strahlender Kerl.

20:30 Uhr

So ist das im Kriege. Als ich zuvor aus der Stadt kam, rollte die 7. Batterie schon an mir vorbei. Als wir das Kommando “Aufsitzen!” von der 8. hörten, kam ein Ordonanzoffizier vom Stab und rief: “Das Ganze halt!”

Die 7. ist auch schon wieder da. Man ist enttäuscht.

Simferopol, den 6. Mai 1942, 21:15 Uhr

Seit einer Stunde rollt die Batterie 7. zum Einsatz. Viel Wehmut. Der Abschied brachte selbst zu Tränen herbe Männer.

Während die Batterie anritt, zuckerte ringsum das Flakfeuer.

Der erste Offiziersverlust des Regiments ist vor ein paar Tagen eingetreten: Lt. Rönicke, ein prachtvoller, schlichter, ruhiger Mensch, wurde auf dem Vormarsch zum Einsatz auf dunkler Straße von einem LKW überfahren, tot. Wie sinnlos erscheint so ein Schicksal!

Simferopol, den 8. Mai 1942, 21:30 Uhr

Im ersten Dämmern des Morgens begann die Offensive auf der Halbinsel Kertsch. – Um 12 Uhr soll die 28. ID den berüchtigten Panzergraben der Parpatsch-Stellung schon 6 km hinter sich gehabt haben.

Vor sämtlichen Lazaretten der Stadt herrscht Hochbetrieb.

Das Wetter ist unvergleichlich schön und für den Einsatz günstig. – Wo mag meine Batterie stecken?

Simferopol, den 9. Mai 1942, 20 Uhr

Unser Angriff hält. Man vermisst die russischen Panzer und erwartet Gegenstoß. Am linken Flügel, wo meine Abteilung eingesetzt ist, gelang es anscheinend noch nicht, jene längst dominierende Höhe zu nehmen. 1700 t Munition wurden gestern verschossen. Der Russe ist unerhört stark. Auf dieser kleinen Halbinsel Kertsch, 160 km lang, halten 20 Divisionen und 4 Panzerbrigaden.

Bei einer Fahrt durch die Stadt entdecke ich in einem Verwundetentransport Olt. Elsner, Greiz, Adj. der Abteilung. Er erzählt: Kommandeur Major Dr. Capeller gefallen, er selbst, Lt. Bartacher, Olt. Linko, Klein, Olt. Eggenhofer verwundet, Letzterer schwer. Das heißt: am ersten Tag Ausfall von 60 % der Offiziere.

Weiter erzählt er mir, der Zurückziehungsantrag meiner Mutter sei abgelehnt, ich bleibe. Sehr gut!

Unser Kommandeur war ein prachtvoller Mensch, vornehm, verständig, menschlich, klug, überlegen.

Simferopol, den 10. Mai 1942, 23:30 Uhr

Nach Aussage eines verwundeten Panzerschützen steht unsere Spitze 13 km vor Kertsch. Olt. Eggenhofer ist gestern seinen Verletzungen erlegen. Er hat gesoffen wie ein Loch, war aber eine Seele von einem Menschen. Gestorben ist er beneidenswert – vorbildlich.

Besuche bei Verwundeten: Olt. Elsner, Lt. Bartacher und Blacher. Es geht gut.

Heinrich Stamp, Lt., liegt noch mit seinem Scharlach. Ich wurde trotz Drängens nicht vorgelassen.

Simferopol, den 16. Mai 1942, 22 Uhr

Halbinsel Kertsch ist nun so gut wie erledigt. Nur an 2 kleinen Stellen an der Küste widersteht der Russe noch.

Man sagt, die Abteilung käme bald zurück. Hoffentlich. Damit wäre ich mein Restkommando endlich los.

Simferopol, den 18. Mai 1942, 23 Uhr

So fange ich denn ein neues Lebensjahrzehnt an. – Blicke ich auf das vergangene zurück, zeigt sich die Metamorphose eines tugendsamen Jünglings zu einem lasterhaften Knaben. – Gibt es einen Weg zurück?

Was hatte ich in diesen Jahren doch für Glück und was brachte ich für Leid! – Aber das würde zu weit führen. Es genügt, wenn sich meine Gedanken den ganzen Tag darum drehten.

Die Russen haben bei Kertsch überraschend 25.000 Mann gelandet. Außerdem haben sie aus einem der beiden Kessel angegriffen, in dichten, eingehakten Massen, und sind durchgebrochen.

Die Abteilung, schon auf dem Rückmarsch, machte kehrt und ging in den Einsatz. Noch einmal ohne mich.

Seit ein paar Tagen trinke ich Wasser. Und schon habe ich einen Ausschlag. Passierte mir sonst bei schlechtestem Wasser nicht.

Sowchose Krasny, den 1. Juni 1942, 12 Uhr

Indessen sind die Batterien unter einem neuen Abteilungskommandeur, Hptm. Aly, von Kertsch zurückgekehrt mit Eisernen Kreuzen der beiden ersten Klassen. Damit ging’s sehr schnell, und der Kommandeur ist der einzige, der gewillt ist, den Wert dieser Auszeichnungen zu erhalten. Um selbst auch welche leichter zu bekommen, sind viele Herren geneigt, unbeschränkte Zahlen von EK in die Batterien zu holen. Düster.

Vor drei Tagen war ich “vorne”, etwa 7 km nördlich von Sewastopol, um mir die Feuerstellung für den Angriff anzusehen. Fahrt durch Staub und eine wunderbar schöne Landschaft, am Rande des Jaila-Gebirges entlang, dann durch die Hügel, die an Jena erinnern. Feuerstellung im Busch, stellenweise einzusehen. Feindlage rutzig.

Tags darauf Ausbau der Stellung. Feindlage lebhafter, Granatwerfer, Artillerie, Ratsch-Bumm. Keine unmittelbare Belustigung.

Und nun bin ich sehr gegen meinen Willen zur 2. Batterie versetzt. Chef Oberleutnant Linke, Lehrer aus Dresden. – Man hat oft den Eindruck, als bestünde die Hebeltruppe nur aus Sachsen.

Abschied von der 9. mit Glücksspiel und einem Gemisch von Sekt und Siebenbürger Wein. Einstand bei der 8. nur mit letzterem.

Mein Restkommando bin ich längst los. Wehen Herzens mußte ich am letzten Tage noch zwei Mann bestrafen. Aber bei Wachvergehen hört bei mir die Pietät auf.

Sowchose Krasny, den 4. Juni 1942, 13 Uhr

Seit drei Tagen wird die Feste Sewastopol bombardiert. Vom frühesten Morgen bis in den spätesten Abend reichen Stukas, Horizontalbomber und Jäger über uns hinweg. In zwei Tagen geht’s los. In der Sonne, an der Hauswand, messen wir Temperaturen um 50 Grad C.

Lazarett Nikolajew, den 17. Juni 1942

Im Drange der Ereignisse des Angriffs auf Sewastopol kam ich nicht zum Schreiben. Also Nachtrag.

6. Juni, 16:20 Uhr

…soll die Batterie in den Einsatz: Simferopol Bachtshissaraj – Duvankoj. Vor B., während des Marsches, steigt über einem Hügel plötzlich eine weiße Rauchwolke senkrecht bis in den Himmel: Ein Eisenbahngeschütz schwersten Kalibers hatte eben geschossen. “Störche” fliegen hin und her. Konter kommen und gehen über uns. Das Wetter ist sehr gut. Die herrlichen Ketten und Schluchten des Jaila-Gebirges zeichnen sich links klar ab. – Bei Duvankoj in einem Obstgarten Bereitstellung. Nachts stehlen wir uns leise in die Feuerstellung, richten ein und warten.

7. Juni, 3 Uhr

beginnt die Artillerie. Der Russe schweigt wider Erwarten und entgegnet uns sehr sparsam. Er will uns seine Stellungen nicht verraten. 3:30 Uhr: Unser Feuer schlägt los. Man glaubt, die Stellung brennt und geht in die Luft. Infernalisches Krachen, der Druck läßt die Erde dröhnen. Sekunden der Flugzeit, dann beben die Unterstände bei uns von den 1500 m entfernten Einschlägen. Nach dem Abschuß hauen wir schnell aus der Stellung ab. Den letzten Fahrzeugen schießen sie schön nach. Es passiert nichts. Durchatmen.

Treffer auf dem Verbandsplatz: Olt. Wappler wird leicht verwundet. Tagsüber unter Störungsfeuer. Warten in der Kapelle, es ist heiß und laut. Munition wird herangeführt, Bereitstellung, nichts tun.

Nachmittag: Erkundungsbefehl. Schwer bewaffnet ziehen wir los. Die Gegend soll noch voller Russen stecken. Durch Karzellen-Schlucht, Kalzabrückenschlucht in die Kamisorsly-Schlucht. Dort beginnt der Tanz. Durch den Grund in Sprüngen an der Kolchose vorbei, den Hang hoch. MG, Scharfschützen, Granatwerfer sind tätig und zwingen uns zu Boden. In einer kleinen Gasse liegen dort Infanterie, Pioniere und Verwundete in dicken Gruppen hinter Büschen. Die Verwundeten seit 5 Stunden im Feuer, ohne daß Hilfe gebracht werden kann. Scheußlich. Dort bleiben auch wir stecken. Ringe von Feindlage ringsum. Zwischen Wm. Fedde und mir schreit einer auf. Hier kommt die Abteilung nicht durch. Olt. Rodenkirchen, der Chef der Aktion, bläst zum Rückzug. Beim Sprung durch den Grund streift mich ein Splitter äußerst liebenswürdigerweise so zart, daß nicht einmal der Rock beschädigt ist. Schweißtriefend kommen wir zurück, die Kehle ausgedörrt, die Sonne hatte es zu gut gemeint, und die Hänge waren steil. Es war das ärgste Feuer auf meinen bisherigen Kriegspfaden. Ängstlich? Nein. Wohl gespannt und hellhörig. Ich beobachtete mich selbst und die anderen Herren. Ich war zufrieden.

Bei Dunkelheit ähnliche Erkundung mit Zugmaschine. Es dauert lange, bis wir auf dem schmalen Weg durch das Gewirr von Vor und Zurück durchkommen. Nachts ist gar nichts zu sehen. Olt. Rodenkirchen führt uns nach Informationen bei sturmgeneigten Höhen wieder zurück.

8. Juni

Im Morgendämmern Befehl zur Wegeerkundung nach Kamisorsly. Im Dorf treffe ich die 1. Batterie und bei ihr Lt. Götz, den alten Kumpan. Normal ein Händedruck. Jetzt ist er gefallen. – Der Weg ist frei, und die Abteilung rollt in den Einsatz.

Äußerst schwierige, steile Auffahrt zwischen Minenfeldern in eine knappe Hinterhangstellung am Bukachery. Fast das ganze Regiment ist in der Gegend versammelt. Nach dem ersten Feuerschlag schlägt uns der Russe mit Granatwerfern zurück. Einschläge jenseits des rechten Flügels. Dauernd sirren Infanteriegeschosse durch die Stellung, dauernd das Klacken der Explosivgeschosse. Sie treffen nichts. Wir schießen noch zweimal mit mäßigem Erfolg. Denn die Russen haben das Mittel gegen uns gefunden: schmalste, mannstiefe Gräben. Aber die Feuerstellung bebt wieder von den Einschlägen. – Gegen Abend Erkundung mit dem Kommandeur. Ein Hexenkessel. Hinüber und herüber in dichter Folge Granaten über uns weg. Dann Einschläge um uns. Plötzlich aber ist der Teufel los. 6 Ratas greifen an mit Bordkanonen, kleinen Raketchen und Bömbchen, die sie zu 20–30 Stück gleichzeitig ausschütten. Unbeschreiblich der Anblick, wie am dunklen Himmel die Maschinen Feuer sprühen. Alle Achtung vor diesem schneidvollen Angriff.

Indessen liegen wir ohne Deckung flach. Und haben Glück, selbst als uns ein MG aus beachtlicher Nähe betackt. Dabei waren wir wieder entgegen allen Lehren der übliche Offiziershaufen von 6 Mann – und noch eine Schar Unteroffiziere, Funker und Fahrer. Oft geht da das Herz unter dem lachenden Gesicht auf höchsten Touren. – Vorsicht Minen! Also Wiese meiden, nur auf harten Wegen laufen oder auf Kettenspuren. Alles heil zurück. Kleinkramarbeit bis gegen Mitternacht, dann ein Auge voll Schlaf in einem russischen Unterstand.

9. Juni 1942

Früh Neuerkundung bis zum Gefechtsstand eines Bataillonskommandeurs. Hauptmann Schrader, Ritterkreuz. Ein sympathischer Mann, schlank, hoch, schmales, blasses Gesicht, jede Bewegung sicher und elegant und voll Energie. Bester Eindruck. Dicht hinter ihm Stellung. Abteilung kommt. Arbeit in Fülle mit Einweisung, Einrichten, Feuerbereitmachen. Es eilt wie stets. Einschläge ringsum. Ist es nahe, legt man sich hin oder bückt sich nur wegen des Gewissens oder vielleicht auch aus Instinkt. Aber schließlich, mir kann doch nichts passieren. – 8.45 Uhr Einschlag wenige Meter vor dem scharfen 4. Werfer, hinter dem ich mit Stabswachtmeister Burdak stehe. Schlag gegen die Schulter, Rauch, und wir liegen da. Weg in Deckung, aber wie. Also verwundet. Der Segen ist bald vorbei. Atemhemmung. Lungenschuss? “Befehl an Burdak, soll Staffel übernehmen, ich bin verwundet.” Arzt in der Nähe. Schneller Verband, nicht so schlimm, aber schmerzhaft. Dann melde ich mich wieder beim Chef, der mich im Graben zurückhält. Da ersehe ich erst: Der Zauber ließ fast eine ganze Bedienung ausfallen. Einer tot, zwei schwer, mehrere leicht verwundet. Darunter Burdak und Unteroffizier Fischer.

Nach dem zweiten Feuerschlag nur aus der Stellung, zurück in die gestrige, die zur Fahrzeugstellung erhoben wird. Gestern fanden sie uns nicht. Ausgerechnet jetzt treffen sie uns: 1 Mann tot, Oberwachtmeister Winterfeld leicht verwundet.

Nach einigem Hin und Her zurück in die Bereitstellung. Fahrt schmerzhaft. – Abmeldung beim Chef und zum Verbandsplatz.

Transport von Sanka nach Tole. Kein Genuss bei schlechten Straßen und stark gefedertem Wagen. In Tole Neuverband und kleiner Eingriff bei örtlicher Betäubung. – Weiter nach Bachtschissaraj zum Umladen, zu Bohnenkaffee, einer Stulle und Zigaretten. Herrlich. – Fahrt nach Simferopol. Lazarett 4/610, Station 3. Dort bin ich bekannt. Genau einen Monat vorher besuchte ich dort die Kertsch-Verwundeten. Herren der Abteilung. Dort liege ich ziemlich fest. – Im selben Zimmer liegt Oberleutnant Wappler.

10. Juni 1942

Bewegungen bleiben schmerzhaft.

11. Juni 1942

Pflege gut. Immer noch schmerzt jede Bewegung. Nachmittag quäle ich mich hoch. Stehen und Gehen ist am erträglichsten. Besuche von der Abteilung und Batterie. Abends Durchleuchtung. Schwein gehabt. Erbsengroßer Splitter drang ein und blieb im Fleisch dicht über dem Rückgrat stecken. Die Wunde ist unter dem linken Schulterblatt.

12. Juni 1942

Das Liegen quält. Stehe ich auf, bin ich am wohlsten. Aber liegen muss ich ja doch auch. Ich mache Besuche und finde noch zwei Nebler in der Abteilung. Lt. Bauer und Hurtig. Bekannt noch von Celle her. In meinem Zimmer liegt noch ein Lt. Matz, unser kommandierender General, böse verwundet mit Splitter im Rückgrat. Überhaupt ist vieles unschön im Lazarett. Zwei Treppen tiefer wurde einem meiner Leute ein Fuß abgenommen. Bei einem Besuch zeigt er sich erschöpft und resigniert. Sonst ein sehr ordentlicher Kerl.

13. Juni 1942

Abtransport unter Protest mit Ju nach Nikolajew. Mein erster Flug. Dauert etwa 1 1/2 Stunden. Länger durfte er nicht dauern. Ich schwitzte schon. Nettes Lazarett, nette, streitbare ältere Schwester. Viel Spaß auf der Stube.

14. Juni 1942

Röntgenaufnahme, gute Verpflegung. Treffen mit Lt. Pischer, AR 24, einst Student und SA-Mann in Jena.

15. Juni 1942

Leider Verlegung in andere Abteilung. In meinem Zimmer treffe ich Lt. Brakhusen an, der vor 5 Wochen beim Angriff auf Kertsch blessiert wurde. Ich lebe mich ganz gut ein.

17. Juni 1942

Zu dritt unter den sichernden Stacheldrahtzäunen durch zum Ingul. Bootfahren, Schwesterchen aus Hermannstadt rudert. Am Weg zurück laufen wir dem Oberstabsarzt in die Hände. Ernstes Wort. Am Ufer sollen Minen liegen. Seither sind wir “Triumvirat” und die “Helden vom Ingul” in des Chefarztes Mund. Das kostet ihm noch eine Flasche Schnaps.