Frühling 1943

Ssultanowka, 21. März 1943

Kolonka, Kerch, nach einem Jahr noch traurigste Ruinen. Kaum ein Haus blieb damals heil. Straßenzüge weit nur totes Gemäuer. Eingeholzte Fensterhöhlen, zugemauert oder offen, je nachdem. Einzelne Häuser notdürftig bewohnbar gemacht mit geringstem Aufwand an Glas. Überreste von restlos ausgebrannten Autos, Blöcke, Batterie an Batterie, Stadtbild beherrscht die deutsche Uniform. Zivilisten gibt’s auch. Und die sind frech und anmaßend. Eben tiefste Etappe.

Ssultanowka, auch ein ödes, armes Dorf. Aber man sieht wenigstens zivilistisches Leben hier in Gestalt von kleinen Ackern, in Bestellung begriffen; wieder einen Stamm von Hühnern und anderem Hausgetier. Langsam wird’s schon wieder.

Nettes Quartier bei freundlich zurückhaltenden Leuten. Wir sind nun in der Mühle der Rückführung. Jede Etappe ist

uns vorgeschrieben und jede Freizügigkeit des Marsches genommen. Ich wollte in 5 Tagen in Simferopol sein. In 10 Tagen vielleicht wird’s auf diese Weise klappen.

Feodosia, den 23. März 1943

Wolkenlos klarer Himmel gestern, schwacher Rückenwind. Wir marschieren nach Leninskoje. Leutnant kassenteufelt tut es leid, uns nur Zelte als Unterkunft geben zu können. Wir bedauern es auch und – oh, seltener Fall – ziehen weiter. Per PKW und LKW bis Sem Kolodesej. Nach 5 Tagen wieder warmes Essen im Soldatenheim und deutsche Schwestern. Wir essen uns randvoll. 7. Batterie kommt auch. Ich drehe ihr 16 Mann an. Da waren es nur noch 26. Noch 17 km mit LKW nach Minerali-Schljaban und doch Zelte.

Nach rechtschaffen durchfrorener Nacht, wir haben Schwein, mit LKW bis nach Feodosia, an alten Kampfstätten vorbei. Säuische Unterkunft, nutzloser Krach mit dem Ortsadjutanten. Nun frieren wir im schlecht geheizten Soldatenheim weiter und schieben Kohldampf. Und dies im begehrten F.

Stany Krym, 24. März 1943

Winterlich kalt mit Frühlingssonne 10 km ab Feodosia auf einem LKW und hierher in die alte Tatarenhauptstadt der Krim. Hübsches Soldatenheim mit guter Küche, soweit es die Umstände erlauben. Wm. Franz rollt durch. Ich hänge ihm gleich 6 Mann an. Da waren es nur noch 20. Ein Hauptmann braucht Quartier, so sollen 4 Leute ein Zimmer räumen. Ich gebe meines, damit sie bleiben können. Abends stellt sich heraus, dass Herr Hauptmann Lehrer und SA-Mann aus Gera sind, und dass ich ihn von Stalernowodsk her kenne. Kleine Plauderstunde.

Simferopol, 25. März 1943

Panje-Kolonne mit 10 Mann allein. Wir sitzen bei Stabsbatterie auf und landen gut in altbekannter Stadt. Meldung bei den Kommandeuren. Viel, viel Arbeit steht bevor. – Im Soldatenheim treffe ich Olt. Hartleb-Burgundia. Freude und Plauderstunde. – “Mein” Doktor fühlt sich als Feldwebel nicht wohl, wenn ich ihn in die Offiziersräume mitnehme. Sehe ich gar nicht ein. – Morgen wird entlaust!

Simferopol, 26. März 1943

Das Wunder des Tages: Die Entlausung! Anschließend beim Regimentskommandeur. Bericht über Wirken, Schicksal und Einsatz der Batterie seit Anfang Januar.

Tschujuntschka, 26. März 1943 Krim: Im Süden die Ketten des Jaila-Gebirges, “schneegekrönte Häupter”, schroff und sanft in allen Graden. Im Norden nur weite Wellen, braun, braun, kein Schutz gegen den Ostwind. Dörfer, die sich erst langsam wieder erholen. Unterkunft in so einem Nest. Die Alte und die Tochter wollen unbedingt mit im Zimmer schlafen, in der Küche “nix Kultura”. Sie schlafen aber in der Küche.

27. März 1943

Sonne und kühl. Post! Endlich kam sie gestern Abend nach 83 Hungertagen. Heute muss ich nun anfragende Bräute, Mütter, Väter, Schwestern usw. beschwichtigen um das Schicksal ihrer Söhne. Bei dreien muss ich leider den Tod mitteilen.

28. März 1943

Sonntag. Man merkt ihn nur daran, dass die Alte die Wäsche nicht waschen will. Unsere Panjekolonne ist noch immer nicht da. Langsam Grund zur Beunruhigung.

Tschujuntschka, 8. April 1943

Ein Tag verging wie der andere. Regen und Sonne, meist schön. Staub und Dreck. Meist Staub. – Leichter Dienst, Fußdienst, Singen, Arbeitsdienst; jedoch verschärfte Unterführer-Ausbildung. Abends Doppelkopf und Skat, meist Doppelkopf. – Verpflegung mäßig. Manchmal bekommen wir von den Russen Kartoffeln, meist nicht. Habe wieder eines der schlechtesten Quartiere erwischt in dieser Hinsicht. Traditionsgemäß ist es auch das kälteste. Das hat nun alles sein Ende, heute packen wir. Einen Vorzug hatte die Zeit. Die lange zurückgedämmte Lesewut tollt sich aus. Fast jeden Tag ein Buch.

Bahnhof Sarabus, 9. April 1943

? km Fußmarsch, die Eröffnung des Tages. Verladen geht schnell, um 11 Uhr rollen wir ab nach Norden. Es herrscht der Skat. Unsere Güterwagen haben wir uns nett eingerichtet mit elektrischem Licht, Radio und einem qualmenden Ofen, labilen Tischen und Stühlen.

Aljeschki, 10. April 1943

Ruckelfahrt durch die Nacht, nachdem ich erst noch Löns, “Der letzte Hansbur” gelesen habe. Heute regnet es nun und ist merklich kühl.

Dnjepr Wir werden mit der Eisenbahnfähre in stundenlanger Arbeit übergesetzt. Vor genau 9 Monaten pilgerte ich hier, aus dem Lazarett kommend, in entgegengesetzter Richtung.

Berditschew, 16. April 1943

In drei Tagen schafften wir die Fahrt von der Krim hierher in die tiefste Etappe, wo man kaum verdunkelt, wo selbst die Russen einigermaßen angezogen herumlaufen, wo das Ei nur 1,5 kostet usw.usw. Der Weg brachte uns über Dsankoj, Aleschki, Cherson, Nikolajew, Suamenka, Pastow, Berditschew.

Untergekrochen sind wir in einem russischen Kasernement im Rohbau, primitiv, aber erträglich.

Die Auffrischungsarbeiten haben eingesetzt. Sichtung des Vorhandenen, Anforderung neuen Materials. Instandsetzung in je­ der Hinsicht: seelisch, körperlich, Bekleidung, Ausrüstung, Material, Ausbildung. Viel, viel Schreibstubenarbeit, die 4 bis 3 1/2 Monate liegengeblieben war.

Das Gros der Nebeltruppe sammelt sich hierzulande. Stadt und Umgebung wimmelt davon. In den Offiziersräumen herrscht das Bordeauxrot auch vor. Alte Bekannte trifft man da, abgesehen davon, dass sich die Herren des Regiments in den wirklich netten Zimmern zu treffen pflegen. Warum auch nicht, es gibt markenfrei zu essen, Bier, Schnaps, wenn Schwester Käthe bei guter Laune. Man kann wirklich Geld ausgeben. Nur Rauchwaren sind wieder knapp, und die Post fließt noch nicht wieder. Urlaub ist noch fern.

Berditschew, den 17. April 1943

Wie ein Wunder kam der Urlaub über Nacht. Für mich, wie für 38 Mann der Batterie. Das gab einen Anfall von Arbeit. Über 500 Unterschriften. - Dazu noch schnell Ausbildungsplan für die Auf­ frischungszeit, Wochendienstplan und viele andere schöne Dinge. Jetzt, 0.15 Uhr am 18. April, ist’s geschafft. Nun kann’s losgehen. Ich glaube es erst, wenn ich zwischen Breslau und Berlin bin.

Berditschew, im Mai 1943

Ja, wie ein Wunder kam der Urlaub über Nacht. Am 17.4., mittags, erfahre ich davon. Da hebt ein dienstliches Gewühle von Auf­ frischungsplänen und Wochendienstplänen an. 18.4., mittags, geht schon der Zug. 19.4., mittags, Lemberg, gegen Abend Przemisl. Entlausung. Soldatenheim Abendbrot und ein Bier – verdammt, es zischt. Das beste Bier des Großdeutschen Reiches. Abends noch weiter. 20.4., mittags, in Krakau verlasse ich den Transport, mache mich selbständig, laufe ohne Platzkarte dem Kommandeur für Urlaubsüberwachung in die Hände, gefährde den Urlaub, komme aber doch weg. Abends mit D-Zug nach Wien. Krakaus Stadtbild ist schön und deutsch: Burg, Theater, Kirchen, Straßen, Häuser. 21.4., früh, in Wien, nach 5 Jahren wieder Onkel Gunther im Blütenkreise seiner weiblich betonten Familie. Nette, verwöhnende Aufnahme. Wien ist noch das alte, kein Wunder, ohne Bomben. Nur so hübsch zugemauerte Denkmäler gibt’s dort. Wie anderswo auch.

Gegen Abend in Laa. Mutter! Großvater. Er ist alt ge­worden, so alt, dass mich die Rührung übermannt, und ich kann mich nicht schämen: Tränen. Kann stundenlang kaum sprechen. Immerhin peinlich für einen alten Soldaten. Auch Großmutter fehlt, wohin ich sehe. - Tage der Verwöhnung. - Am 25.4., Ostersonntag, kommt Hanna mit Wilfrid. Damit beginnt nach 15 Monaten wieder das grenzenlose Familienglück.

28.4. Wien, paar Stunden mit Onkel Gunther. 29.4. Nürnberg. Trotz Bomben Stadtbild nicht nennenswert verändert. Jena. Hel­ ga ist ein entzückendes Mädelchen geworden. Bekanntmachung mit Hartmut fällt kühl aus. Er liegt drin in seinem Bettchen wie ein Prälat und ist lange abweisend. Unfassbar schnell ist der Urlaub vorbei. Schlussakkord mit Hanna in Berlin bei Tantens. Abschied sehr schwer. Trotz Sibyllen werde ich das Gefühl nicht los, dass das das letzte Mal war.

14. Mai 1943

Mittags wieder in Berditschew.

Berditschew, 25. Mai 1943

Ich glaube zu wissen, dass ich nicht mehr zu den Meinen zurückkommen werde. Die Grenze zwischen Wissen und Gefühl ist mir nicht klar. Sie war mir selten so unklar wie heute. Ich will den Gefühlen, o schreckliches Wort, der jüngsten Vergangenheit nicht nachspüren. Dafür ist es noch nicht Zeit.

Aufgrund äußerer Erlebnisse tun sich mir plötzlich Dinge auf, die ich bisher in diesem Maße noch nicht erahnt habe. Sei es, dass ich ein Buch lese, wie diese flache “Totenhorn-Südwand” von Strobel oder den “Mythus”, in dem ich augenblicklich knie. Sei es Musik, selbst schwerere spricht mich plötzlich an. Sei es ein Film, wie heute “Rembrandt”, der mich sehr stark bewegt hat, so, dass ich auf dem Heimweg erst keine Antworten geben konnte. “Ich wusste gar nicht, dass Rembrandt im Alter verrückt war.” Holzhammer: “Er war nicht verrückt, er war nur weise.” “Na ja, aber doch anders, eben verrückt.” “Was der normale, sprich Durchschnittsmensch, nicht versteht, nennt er verrückt. Indessen ist es eine andere Ebene, die man von unten oder selbst vom Rande her nicht übersehen kann.” “Genie und Wahnsinn sind eben verwandt. So das eine ganz oben, das andere ganz unten.” “Nein, sie sind Extreme, die sich in einem Kreis berühren mögen. Dennoch ist aber eine Grenze da, die wir aber nicht ausflaggen können.” “Hm.”

Berditschew, 1. Juni 1943

Der Dienst ist nicht aufregend oder anstrengend. Aber der “Außendienst” im Soldatenheim und in einzelnen Quartieren. Zu feiern gibt’s immer. Und wenn es nur ein Doppelkopf ist. Das ist meistens der Fall.

Der Ersatz, den wir bekommen, ist wesentlich besser als erwartet. Nur Soldaten sind sie nicht. Dennoch: An ihnen sieht man erst, was man an den alten Leuten hat.

Die Offiziersabende des Regiments sind nett. Der Regimentskommandeur ist ein noch junger Major, groß, schlank, beweglich, geistvoll, heiter. Spielt gerne Doppelkopf mit scharfen Bestimmungen.

Der Abteilungskommandeur, “Hugo, das Kognakauge”, kam in bester Stimmung aus dem Urlaub zurück. Erfreulich, so war bisher mit ihm gut umzugehen. Auch das gibt sich.

Berditschew, 15. Juni 1943

Pfingsten. Wolkenlos der Morgenhimmel. Malerisch bewölkt am Mittag. Am Nachmittag gießt es wie aus sämtlichen Traufen der Welt.

Regiments-Offiziersschießen. Gewehr schoss ich wie einst im Mai. MG ging besser als erwartet. MP unter jeder Kritik. Pistole schlecht wie noch nie. Dennoch: 5. Platz in der Gesamtwertung und 1. Platz im Gewehr.

Der Kommandeur will ein Büchlein über unsere Steppe herausgeben. Ein blendender Gedanke an sich. Wir sollen uns beteiligen. Hoffentlich wird’s was.

Verflucht, sehen die Frauen hier aus! Wohlgeformt wie noch nie, vielfach auch hübsch, viel blond mit blauen Augen. Untereinander hört man sie deutsch sprechen. Sie können einem die Zurückhaltung fast schwer machen.