Winter 1942

Celle/Hann., 21. Feb. 1942

“Vivat! Es geht ins Feld!” Wohin, wissen wir nicht. Russland ist groß, und der GerĂŒchte sind viele.

Das Verladen geht schnell. Jedenfalls schneller, als man die Fahrzeuge einer Batterie am Laufen hat. Ich fahre mit einem Lt. Siegel im Abteil. Vor einer Stunde sind wir in Uelzen weg. Der Zug lĂ€uft gut, es ist wohlig warm im Abteil, draußen liegt viel Schnee. Bei der Vorbeifahrt zeigt sich die NCS nochmal in voller GrĂ¶ĂŸe, und Erinnerungen steigen auf.

Pressburg, 23. Feb. 1942

Gestern fĂŒhrte uns unser Weg ĂŒber Halberstadt, Leipzig, Dresden, Leitmeritz, Belnik, Kolin, Pardubitz bis MĂ€hrisch TrĂŒbau. In Dresden gab’s Aufenthalt mit dem ĂŒblichen Verpflegungsbetrieb. Lt. Siegels Frau winkte zum Abschied, wie auch die Leute auf der Straße. Die Fahrt durchs Protektorat war still, die Tschechen unfreundlich im Blick, grĂ¶ĂŸtenteils devot in der Haltung. Mehr kann man auch nicht erwarten. Die Hoffnung, durchs “Goldene Prag” zu kommen, war trĂŒgerisch.

In Pardubitz steigen Erinnerungen an die Kindheit auf. Da war ich vor 25–30 Jahren öfter mit meiner Mutter auf der Reise nach Jaromer. Die Zeit des Tages wird totgeschlagen in GesprĂ€chen, Skat ohne mich und GetrĂ€nken. Zigaretten und Pfeifen gehen nicht aus. Ein WRI macht Musik mit NebengerĂ€uschen. Zeitungen gibt es keine. Ohne die Nachrichten aus dem WR lebten wir ganz hinter dem Mond.

Heute in den ersten Stunden des Tages notierte ich zwischen Wachen und Schlaf den Weg: BrĂŒnn, Lundenburg (7.45 Uhr), Landshut, Kuty (10:30), dann weiter durch die Slowakei, die Grenze entlang nach Pressburg (16 Uhr).

In Lundenburg ĂŒberlege ich, bei meiner Mutter anzurufen. Das rĂŒhrte sie zu sehr auf. Also nicht. Zum ersten Mal in der Slowakei. Die Leute sind verhĂ€ltnismĂ€ĂŸig freundlich. Sie sehen nicht toll aus. Schwarze, kleine, gedrungene Gestalten vornehmlich. In ihren Uniformen wirken sie gut. Sie machen gute Figur und zeigen Disziplin. Unsere Macht und Überlegenheit merkt man dennoch an ihrem Gehaben. Unsere Landser hingegen liefen am liebsten nur in Latschen, Schlupfjacken und ohne MĂŒtze herum. Das stellt man energisch ab. In Preßburg steht der Sonderzug von Keitel, der zu Besuch da ist. Die Zeitungen sind voll von dem Ereignis. Es sieht aus wie im Paradies. Alle Arten Schnaps werden angeboten, Apfelsinen, Obst, Schokolade, Pralinen, Zigaretten. Mit dem Kauf ist es Essig. Reichsmark wird nicht angenommen. Sonst wĂ€re auch dieses Land in KĂŒrze ausgekauft. So bleibt uns nur der Genuss des Anblicks und unsere Marketenderei. Am Nachmittag, ab Pressburg, eine Stunde Plauderei mit Oberkanonier Blum, SturmfĂŒhrer und Erzieher in Feldafing. Ein sicherer und ĂŒberlegener Mann. Der Himmel ist trĂŒb, draußen taut es. FrĂŒhlingsahnen - schön! Nun sind wir in Ungarn, Kijarat heißt das Nest. Eine halbe Stunde Aufenthalt mit Kaffee-Empfang. Ein Zug mit Italienern steht am Bahnhof. Leutnant Wappler lĂ€uft, sie anzusehen. Ich bin gar nicht neugierig.

Kertecske, den 26. Februar 1942

Ob das Nest (vier Zeilen weiter oben erwĂ€hnt) wirklich “Kijarat” heißt oder ob das Wort nur “Ausgang” bedeuten soll, ist mir zurzeit unklar. Wir sind jetzt volle fĂŒnf Tage unterwegs und noch in Ungarn, inmitten der Karpaten NordsiebenbĂŒrgens, das vor Ungarn noch RumĂ€nien gehörte. Am 23. erreichten wir ĂŒber Hegyeshalom (Straßsommerein) Ersekujvar, zu Deutsch Neuhaus oder Neudorf. Am 24. geht es hart nördlich Budapest vorbei ĂŒber Mende, Szolnok nach Fischböckwardein. Am 25. ĂŒber Magykaroly bis ĂŒber ZsibĂł (Jibou), und heute berĂŒhrten wir Kisiloa, NagyildĂ€, Nagylva Felsö und eben Kertecske. Ja, lauter Nester, kennt kein Mensch, abgelegen in den Karpaten werden wir weitab des Verkehrs nach Russland geschafft.

Die Fahrt durch Ungarn war wie durch ein MĂ€rchenland. Es taute mit Macht, die Sonne brannte, der Schnee schmolz zusehends, BĂ€che wurden Ströme und rauschten durch das unzivilisierte Land, derart, daß wir hinter ZsibĂł 2 km weit durch das Wasser fuhren, das den Gleiskörper ĂŒberspĂŒlte. Paradiesisch wirkten auf uns die allgemeinen Lebensbedingungen. Heller leuchteten Straßen und HĂ€user, in den GeschĂ€ften markenfrei zu haben, was das Herz begehrte: Schokolade, Konfekt, Wurst, Liköre, Wein, Obst, Seife, alles, was wir in solcher FĂŒlle seit Frankreich nicht gesehen haben. Ich wĂŒnschte mir Hanna und die Kinder hier.

Der Ankauf dieser Herrlichkeiten stĂ¶ĂŸt auf Schwierigkeiten. Mit List, TĂŒcke und GlĂŒck gelang es uns, Geld zu wechseln. So kaufte ich denn als “Offiziers-Marktender” ein. Einen Zentner Schokolade, rd. 50 Liter Liköre aller Art, Wein, Konserven, 1/2 Zentner Apfelsinen. Die Leute freuten sich, und die BestĂ€nde waren bald verschwunden. Das Zeug ist teuer, aber was gilt das Geld, wenn es nach Rußland geht?

Das Land ist schön, wirkt in seiner PrimitivitĂ€t unberĂŒhrt. Schlechte Wege, erst durch weite, weite, weiße Ebenen, wenig, fast kein Wald, nur Weiden und einzelne BĂ€ume. Kleine Dörfer ducken sich mit niedrigen DĂ€chern an den Schnee heran; dann wieder StĂ€dtchen, die in ihrer Bauart auch in Deutschland stehen könnten, wenn sie mehr Ordnung und Sauberkeit aufwiesen.

Nach Osten zu wird das Land hĂŒgelig, dann bergig. Hier in den Karpathen sieht’s aus wie im ThĂŒringer Wald, in der Steiermark oder KĂ€rnten. Da hĂ€lt sich auch noch der Schnee, und es ist kĂŒhl.

In Kosna, dem letzten ungarischen Ort vor der Grenze, noch ein Wort ĂŒber die Ungarn: Äußerlich wirken sie schon abenteuerlich mit ihren StoppelbĂ€rten und hohen FellmĂŒtzen, zumeist schwarzen MĂ€nteln und schlechten ZĂ€hnen. Uns sind sie aber anscheinend sehr freundlich gesinnt. Die ganze Strecke durch Ungarn grĂŒĂŸte und rief uns fast jedermann zu und winkte, hob die Hand, rief “Heil” und “Heil Hitler”. Die Soldaten wirken salopp, grĂŒĂŸen aber freundlich. Mit den Offizieren hat man ein herzliches VerhĂ€ltnis, auch mit dem Lok-Personal und den Bahnbeamten kommen wir gut hin. Alles in allem ein wider Erwarten gutes Einvernehmen.

Beispiel: Gegen 23 Uhr in Fischböckwardein. Aufenthalt eine halbe Stunde. Wir hatten noch einige Pengö frei und wollten noch etwas kaufen. Restauration keine. Ich befrage einen Ungarn. Achselzucken. Plötzlich blitzt in seinem Gesicht ein Gedanke auf – (indessen war Leutnant Wappler hinzugekommen). Des Ungarn Gedanken: Ins Hotel Rakocsi! 2 km vom Bahnhof. Er machte einen Opel flott, und wir brausten los, in fremder Stadt mit wildfremden Leuten, ohne Waffen, bei noch 25 Minuten Zeit. Hotel Rakocsi ist hell erleuchtet, innen jedoch balkanesisch unsauberer Art. Eine hĂŒbsche Ungarin lacht uns zu, die Geigenspieler brechen ab, ein alter, biederer Ungar stĂŒrzt auf mich los, will mich auf die Wange kĂŒssen, ist beleidigt, wie ich wenig Neigung zeige, lĂ€ĂŸt sich aber versöhnen, als ich ihn mit beiden HĂ€nden beim Kopf nehme und schĂŒttle. Freundschaftsbeteuerungen, aber zu kaufen gibt’s außer ein paar Waffeln nichts. Zum Abschied empfange ich von erwĂ€hnter Ungarin einen nachhaltigen HĂ€ndedruck, kernig und fest. Und dann in den Wagen, im Höchsttempo zum Bahnhof. Der Zug war noch da. WĂ€hrend die Fahrt durch Deutschland schnell und klaglos ging, bleiben wir seit der Slowakei in fast jedem Nest stehen, haben Aufenthalt bis zu drei Stunden und wohl noch lĂ€nger. Durch Ungarn brauchten wir allein volle drei Tage.

Das Ziel aber bleibt unklar.

Jassi, den 27. Februar 1942, 23 Uhr

Ehe wir gestern Ungarn verließen, rief mir beim Maschinenwechsel der alte Lok-FĂŒhrer, ein sympathischer Budapester, zu: “Auf Wiedersehn, Herr Leutnant, Gott mit Ihnen!”

Über einen Tag rollen wir nun schon durch RumĂ€nien: Vatra Domei, Dar Manesti, Itcani, Voresti, Dolhasca, Hece Lespezi, Pascani, Jassi. Mit dem Übertritt nach RumĂ€nien gingen uns die in Ungarn gelobten VorzĂŒge der UmstĂ€nde verloren: Es ist wieder Winter, kalt, trĂŒb. Dörfer, StĂ€dte, GaststĂ€tten, Kneipen sind arg dreckig. Noch mehr die Leute, wie die Soldaten im Allgemeinen. Alles ist irrsinnig teuer. Nichts, gar nichts hĂ€lt einen Vergleich mit Ungarn aus. Der Fusel ist schlecht, der Wein ist sauer, Zigaretten gehen, Lebensmittel liegen orientalisch schmuddelig vor dem KĂ€ufer, der Speck aber ist gut. Die Bahnanlagen sind verlottert, in jeder Station drĂ€ngen sich bettelnde Kinder und auch Alte an den Zug. Die Wache muß verstĂ€rkt werden, weil auch gestohlen wird.

Kischinew, den 28. Februar 1942

Es ist weiterhin kalt und schneit. Über das Land hier, Bessarabien, ist der Krieg mit arg sichtbaren Spuren hinweggegangen. Rings viele zerschossene und ausgebrannte HĂ€user und Dörfer. In Kischinew selbst sieht es schlimm aus. Viel Leben in der Stadt zwar und viel Handel, aber ganze StraßenzĂŒge ausgebrannt, nur die Außenmauern stehen noch. Viele HĂ€user sind gĂ€nzlich eingestĂŒrzt. Zwischen all den Ruinen aber lebt, lĂ€uft und krabbelt es. Eine Straßenbahn verkehrt auch noch bzw. schon wieder. Sie fĂ€hrt gut und ist billig. Ich soll fĂŒr die Batterie Bratpfannen kaufen. Das ist schwer ohne Sprachkenntnisse. So kommen meine mehr als bescheidenen Zeichentalente zur Geltung. Nach 10–15 vergeblichen Versuchen finde ich endlich einen Laden. Die Augen des VerkĂ€ufers werden groß, als ich 16 StĂŒck mitnehme.

Die Stadt ist ostisch weitlĂ€ufig angelegt, sehr breite, ungepflegte Straßen, zu beiden Seiten AlleebĂ€ume, zu dieser Jahreszeit dĂŒnnen Besen gleich, die HĂ€user niedrig und, wie gesagt, zum grĂ¶ĂŸten Teil ausgebrannt. Einige Kirchen scheinen unbeschĂ€digt zu sein. Sie wirken schön im Gesamzbild, mit ihren ZwiebeltĂŒrmen und sind mehr breit als hoch.

In Pascani machten wir gestern bei Schnaps und fadem Bier VerbrĂŒderung mit zwei rumĂ€nischen Offizieren d.R. Der eine, mittelgroß, gedrungen, schwarze, in Wellen gelegte, lange Haare, elegantes, schmales BĂ€rtchen ĂŒber die ganze Breite der Oberlippe, dunkle Augen, graziöse, zierliche Bewegungen, ist der Typ des hiesigen Offiziers. Der andere hingegen, dunkelblond, Brille, unrasiert, lĂ€ssig in allem, stĂ€ndig zwei Knöpfe am Rock auf, wirkt weniger sympathisch. Der gemeinsame Sprachnenner ist Französisch. Wenn die Unterhaltung aufgrund sprachlicher Schwierigkeiten stockt oder aus sonstigen feierlichen AnlĂ€ssen, wird getrunken. Das ist der Fall. Dann wird fotografiert, die Batterie singt, schließlich werden wir in eine Rekrutenkantine eingeladen. Dort sitzen drei 15-jĂ€hrige MĂ€dchen und zwei junge Damen, keineswegs etwa hĂŒbsch, aber dick bemalt. ZwiegesprĂ€che werden gewechselt. Ich mime Dolmetscher wie schon die ganze Zeit zuvor. Beim Abschied sagt eine der Kleinen, sie könne Deutsch und hĂ€tte alles verstanden. Hoffentlich haben wir nichts gesagt. - Nach dem ganzen Fest war mir schlecht. Abends brieten wir ĂŒber dem Kerzenfeuer RĂŒhrei. Das machte mich wieder mobil.

Wir nÀhern uns der russischen Grenze. Es wird Munition ausgegeben.

Manhaim/Ukraine, den 1. MĂ€rz 1942

FrĂŒh 4 Uhr beginnt in Tighena am Dnjestr das Ausladen der Fahrzeuge. Mit Krach und einigen Schwierigkeiten kommt es hin. In der Stadt lebhaftes Marktgetriebe. Ich kaufe fĂŒr die Batterie die letzten Zigaretten und Speck ein. Dann beginnt der Landmarsch. Von Tighena ĂŒber den Dnjestr nach Terspol, dann ĂŒber Strasburg nach Manhaim.

Wir sind in Rußland. Du mußt Dir vorstellen: ein flach- und langwelliges GelĂ€nde, so weit man sieht, kein Wald, kein Holz, dann und wann ein Baum, ein Strauch, alle 20–30 km ein kleines Dorf. Sonst wird die Landschaft in ihrer Eintönigkeit nur durch Reihen aufgestellter „Streichhölzer“, Leitungsstangen, durchbrochen. Die Wege, die durch dieses Land ziehen, sind schlecht. GewĂ€sser von 30 m Breite und 50 cm Tiefe ziehen quer darĂŒber hin. Die Wege sind heute gut, denn sie sind unten noch gefroren. Wie wird das erst, wenn das Tauwetter durchbricht? Stell Dir das vor, und Du siehst ungefĂ€hr die Ukraine.

Der erste Tagesmarsch von rund 70 km war schon mit ZwischenfĂ€llen verbunden – Abreißen der Kolonnen, UmstĂŒrzen eines Wagens und derlei.

Jetzt ist es 21 Uhr, und es ist Ruhe. – Das Dorf ist zum großen Teil deutsch. RumĂ€nen gibt es auch noch hier. Unsere Wirtsleute sind bescheiden, aber nett. Ich wohne mit Lt. Siegel und Wm. Fedde-Noymode zusammen. 1 Bett.

Ein Außenposten des Sicherheitsdienstes der SS liegt hier. Sie erzĂ€hlen tolle Geschichten ĂŒber die „Lösung“ der Judenfrage in Kiew usw. Gestatte, daß ich nicht ganz der Meinung bin.

Odessa, den 2. MĂ€rz 1942

Den spĂ€ten Abend verbrachten wir mit einem jungen UntersturmfĂŒhrer der SS. Die GesprĂ€che gehen um die kĂŒnftige Gestaltung des Ostens und unseres eigensten Raumes. Der junge SS-FĂŒhrer ist in seinen Anschauungen und der Art, wie er sie bringt, noch recht keß und oberflĂ€chlich, dennoch vertritt er Meinungen, die ich frĂŒher schon oft geĂ€ußert habe. Alles aber ist eine Rechnung ohne den Wirt, Rußland. Es ist noch lange nicht geschlagen.

Manhaim ist eine deutsche Siedlung, entstanden zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Bewohner sind Schwaben.

Heute war ich Vorkommando in Odessa, fuhr mit meiner Zugmaschine mit unserem Pak-AnhĂ€nger der Batterie vor. Die Straße war so, daß selbst diese Maschine bis zum Querstand schleuderte. Am Wege standen viele, viele Kreuze rumĂ€nischer Soldaten. An einer Stelle vier Friedhöfe, in einem 500 Mann eines Regiments. Die RumĂ€nen sollen um Odessa 100.000 Mann verloren haben. Die Stadt steht unter ihrer Hoheit, wir sind nur GĂ€ste. Die Quartiere sind gut, Unterbringung zu zweien bis fĂŒnfen bei Russen, Ukrainern und Deutschen. Die Fahrzeuge stehen auf der Straße, die kleineren auf dem BĂŒrgersteig.

Wir Offiziere wohnen zu fĂŒnft in zwei Zimmern bei einer Russin. Älteres, ĂŒppiges Kaliber. Die Stuben sind ertrĂ€glich sauber, das Zeug stammt wohl noch aus der zaristischen Zeit. Die Alte schlĂ€ft in der KĂŒche und kann Deutsch.

Es gibt vorzĂŒglichen schwarzen Tee. Das Abendbrot ist frugal: Speck, Rauchfleisch und Wurst, noch in Tighena erstanden.

Odessa, den 3. MĂ€rz 1942

Wunderbar geschlafen, spÀt aufgestanden. Unsere Wirtin, genannt Puffmutter, sprang in ihrem Schlafrock schon zwischen uns herum, wÀhrend wir uns noch anzogen. Sie konnte es, sie ist wirklich ungefÀhrlich.

Nach langem wieder einmal ein Mittagessen mit Messer und Gabel im Hotel “Bristol”, ehem. “Intourist”. Reichhaltige, erstaunliche Speisekarte. UnverhĂ€ltnismĂ€ĂŸig preiswert. SchnĂ€pse irrsinnig teuer. Ein Cognac kostet so viel wie ein MenĂŒ mit Schnitzel.

Der Hafen liegt herrlich, ist aber still und verödet und vereist. Das Meer schimmert dunkelgrĂŒn, fern gegenĂŒber sieht man Land, die den Hafen schĂŒtzende Landzunge. Die berĂŒhmte Freitreppe ist unbeschĂ€digt, herum alles zerstört.

Die Krone des Tages ist “La Traviata” auf Russisch. Das Opernhaus ist wunderbar. Besonders die beiden HauptaufgĂ€nge und der Zuschauerraum, prunkvoll, geschmackvoll in Gold und Weiß, ein herrlicher Vorhang in Purpur und Gold. Das Foyer fĂ€llt ab, ist dunkel und schmucklos.

Die AuffĂŒhrung ist glĂ€nzend in Gesang, Musik, Szenerie. Die fremde Sprache berĂŒhrt eigenartig. Vor allem liegt Reiz im Ballett im 3. Akt, welches eine Auffassung zeigt, die ich noch nicht sah, was hinwiederum nichts besagen will.

Die Gestalten der Darsteller sind zum grĂ¶ĂŸten Teil breit und untersetzt, stĂ€mmig, eben russisch. Die TĂ€nzerinnen dagegen schmal und grazil, von einer anmutigen Leichtigkeit; wiederum: eben russisch.

Der Abend “vereint” uns mit unserer Wirtin und deren stĂ€ndigen Besucherinnen (daher der Name “Puffmutter”) beim Tee. Die Frauen sind ganz so, wie wir die Russinnen bisher kennengelernt haben: Blendende ZĂ€hne, ideale, dralle Oberkörper ohne StĂŒtzen, krĂ€ftige, breite Untergestelle, dicke Beine, die Gesichter breit, eben ihre Rasse, nicht reizlos. In ihrer Art durchaus zurĂŒckhaltend. (Die Kanoniere, obwohl ernsthaft gewarnt, deuten andere Erlebnisse an.) Nur eine Volksdeutsche aus Czernowitz (ausgerechnet!) ist ĂŒbel. Unsere Wirtin warnt uns unnötigerweise vor ihr: “Heia nix gutt, einmal kommen, ein Jahr krank.”

Die Unterhaltung ist aufgrund der sprachlichen Gegebenheiten schwierig.

Nikolajew, den 6. MĂ€rz 1942

Am 4. MĂ€rz ĂŒber 120 km von Odessa hierher. Ich hatte wieder das Vorkommando. Straße fĂŒr die VerhĂ€ltnisse hier sehr gut, ohne Schwierigkeiten. Viel Volk auf dem Wege. Am Rand der Straße manch deutsches Soldatengrab.

Hunderte von gefangenen Russen arbeiten an der Straße, bewacht von RumĂ€nen. Dann und wann auch von Deutschen.

Über den Bug vor Nikolajew fĂŒhrt eine ganz komische BrĂŒcke. Sie schwimmt, nur an HolzstĂ€mmen mit Bauklammern verankert und hat Biegungen, Knickungen und Kurven. Aber sie trĂ€gt bis zu 10 Tonnen.

Nikolajew ist eine Stadt von ehemals 100.000 Einwohnern. Heute ist sie nur von deutschen Soldaten beherrscht und von ihren Fahrzeugen. Tausend StĂ€be, Dienststellen, Ämter, Kommissare und Behörden liegen hier. Die Truppen stauen sich, da weit vorne der Dnjpr z. Zt. nicht passierbar ist. BrĂŒcke keine da, Eis im Schmelzen, aber noch so stark, daß keine FĂ€hre in Aktion kommt.

Die Stadt ist arg ramponiert und ausgeplĂŒndert, ohne Licht; Wasser nur vom Abend bis zum Morgen.

Die Batterie kommt in einem Zivilwohnblock unter. Wohnungen mit winziger KĂŒche, 2 RĂ€ume, Abort einst mit WasserspĂŒlung. Zentralheizung. Funktioniert natĂŒrlich alles nicht. Unsagbar dreckig und verwahrlost. Russen reinigen sie und Russinnen halten sie jetzt sauber. Die Wohnungen natĂŒrlich. Die Aborte bleiben im Ganzen unbenutzbar.

Los ist hier gar nichts. Im Soldatenheim gibt’s abends ein Paß DĂŒnnbier. Sonst keine GeschĂ€fte, kein Lokal, kein Laden.

Gestern lieferten wir einen Wachtmeister wegen § 175 dem Kriegsgericht ein. Heute war Verhandlung: 18 Monate und Rangverlust. Der Mann ist seit November 1941 verheiratet. Seine Opfer waren blutjunge Kanoniere. Bei der Einlieferung sahen wir uns das ehemalige GPU-GefÀngnis an. Das meiste zerstört. Der Rest wie in der Presse geschildert.

Nikolajew, den 7. MĂ€rz 1942

Vormittags Bad, wunderbar. Nachmittags im Luftwaffenkino, „Der Meineidbauer“, sehr gut, vor allem in der Darstellung, auch gutes Vorprogramm mit Herbert Bayer und FallschirmjĂ€gern. Die Wochenschau war alt.

Vor ein paar Tagen kam der Chef von der Feldkommandantur mit trĂŒben Bildern von der Lage und eröffnete die Aussicht, daß wir zur Verteidigung eingesetzt werden sollen, wir, die wir doch eine ausgesprochene Offensivwaffe sind. Dieses Lagebild ist fĂŒr Nikolajew typisch, denn es entstand in der Etappe. Und N. ist finsterste Etappe.

Einen Vorzug hat N. Es steht unter deutscher Bewachung. Daher ist Ruhe da. In Odessa, wo die RumĂ€nen herrschten, hört man die ganze Nacht hindurch SchĂŒsse. Unsere bundesbrĂŒderlichen Posten schießen auf jeden Schatten, den sie nicht einwandfrei als Freund erkennen können. Ob sie sich damit Mut machen wollen?

In Odessa trafen wir ĂŒbrigens auch einen Bremer Hauptmann, der da die von Partisanen bevölkerten Katakomben stĂŒrmen soll. Diese Höhlen, unter der ganzen Stadt verzweigt, sind mit ihren Sprengstofflagern ein stĂ€ndiges Moment der Unsicherheit fĂŒr das ganze Nest. Wie man dem zu Leibe will, ist noch unklar. Vielleicht mit Nebel oder Kampfstoff. FĂŒr letzteren dĂŒrfte der FĂŒhrer aber keine Genehmigung geben.

Heute war es wieder bei blauem Himmel bitter kalt. – Vor 14 Tagen traten wir die Fahrt an. Seither keine Nachricht von Hause.

Nikolajew, den 8. MĂ€rz 1942

Ein Sonntag in Ruhe und Beschaulichkeit. Draußen kalt, viel Sonne und ein tiefblauer Himmel.

Jetzt sitzt Ihr in Jena beim Kaffee. Wilfrid will wieder nicht essen, und ich möchte bei Euch sein.

Nikolajew, den 9. MĂ€rz 1942

Noch immer 400–500 km hinter der Front und schon peinliche AusfĂ€lle. Ein Wachtmeister im GefĂ€ngnis, der Schirrmeister, der Unentbehrlichste, windet sich in einer Nierengeschichte, der Uffz. Franz liegt mit BlinddarmentzĂŒndung im Lazarett.

Die ersten 12 Mann mit LĂ€usen festgestellt. Sofort zur Entlausung.

Heute beinahe Friedensdienst: Unterricht, Fußdienst, Ausbildung an den Werfern und sonstigem GerĂ€t.

Man spricht hier von einer Aufstandsbewegung von 25.000 Russen. – Angesagte Revolutionen treffen nicht ein. Wenn wir merken, daß wir samt Bett und Haus hochgehen, glauben’s auch wir.

Nikolajew, den 10. MĂ€rz 1942

Gestern soll auf dem Flugplatz hier Sabotage verĂŒbt worden sein. Ob es wahr ist, bleibt noch unĂŒberprĂŒfbar. Tatsache ist, daß heute frĂŒh auf dem Marktplatz 10 Russen aufgehĂ€ngt wurden: drei dicke Rundhölzer als Galgen. Darunter hingen nun die Gestalten, gelb, mit verdrehten Köpfchen, schrecklich anzusehen.

Sind nun schon eine Woche hier. Man spricht wieder von Abmarsch. 21 Uhr: Wir bleiben noch. In zwei Tagen vielleicht.

Die Mannschaften klagen, daß es zu wenig zu essen gibt. Sie haben recht. Als Offizier kann man sich da eher helfen. Zudem ist unsere Arbeit körperlich nicht so anstrengend. Selbst wir zehren nur noch von den in Ungarn erworbenen und ersparten VorrĂ€ten.

Heute gab’s schon wieder Sabotage. Da werden morgen wohl wieder welche hĂ€ngen. Wie leicht wĂ€re es fĂŒr die Russen, unser Offiziersquartier auszuheben. Es ist ohne Bewachung.

Unser bisheriger Marschkamerad, Lt. und OberfĂŒhrer Siegel, hat uns heute verlassen. Tat uns allen leid.

Nikolajew, den 12. MĂ€rz 1942, 11:30

Gestern war ich mit einem LKW und vier Mann unterwegs, um zusĂ€tzliche Verpflegung zu organisieren. Ergebnis: 5 Ztr. Kartoffeln, 500 Eier, 7 HĂŒhner, eine Gans. Bezahlt haben wir wenig, nur getauscht. Erst mit Tabak, zögerndes Angebot, dann mit Zucker. Im Nu war der Wagen von mehr als 100 MĂ€nnern, Frauen und Kindern umringt. Das GedrĂ€nge drohte lebensgefĂ€hrlich zu werden. Am Ende strahlte alles. Wir hatten billig gekauft, und die Russen hatten ihren Zucker.

Auf einer Kolchose an der Straße nach Krivojrog schenkte mir eine volksdeutsche BĂ€uerin ein großes StĂŒck Speck: “Wer bei mir nicht ißt, dem gebe ich nichts mit.”

Die Abende verbringen wir mit Schreiben und beim GlĂŒcksspiel. Das macht der um 25 % höhere Sold. Wir spielen mit ganz niedrigen EinsĂ€tzen “HĂ€ufeln” und “17 und 4”. In den letzten Tagen hatte ich viel GlĂŒck. Auf die Dauer aber gleicht sich alles gerecht aus.

Es ist schrecklich, mir schmeckt kein Schnaps mehr. Seit Wochen schon. Der Chef wundert sich.

Heute kam vom AOK der Marschbefehl. Morgen geht’s weiter, wenn, ja wenn wir Sprit kriegen.

Nikolajew, den 15. MĂ€rz 1942, 15 Uhr

Sprit haben wir nun in Massen. Jetzt trÀgt das Eis des Dnjpr uns nicht mehr. Also liegen wir wieder fest.

Gestern wurde unser Schirrmeister Finsterbusch, der indessen vor seinem Nierenanfall mehr schlecht als recht dienstfĂ€hig ist, eine Überraschung zuteil. Eine Weihnachtsfeier fand in einem Kinosaal im Beisein vom Gefr. Blume statt. Sie verlief primitiv, aber schlicht, soldatisch passend. Auch Lieder. Als es in einem hieß: “MĂ€del untreu, – sei lach, dann such mir ne andre aus –”, war die Stimmung gut. Anschließend gab’s ein frugales Abendessen fĂŒr die ganze Batterie. Die HĂŒhner reichten nicht.

In der SĂŒdwerft liegen noch russische Schiffe. Ein Schlachtschiff von 35.000 t Hau, ein Kreuzer von 10.000 t Hau, ebenso viele kleinere. D. h., der Bau wurde abgebrochen und wird nicht weitergefĂŒhrt. Die Werftanlage ist riesengroß, 3 x 6 km. Gebaut wurden hier anscheinend Schiffe, GeschĂŒtze, Panzer, Lokomotiven. Gut eingerichtete Hallen, die Maschinen durch Entfernung von Einzelteilen raffiniert unbrauchbar gemacht. Darin sind die Russen Meister. Jetzt bietet die Anlage ein trostloses Bild von Verfall, Zerstörung und einem unfaßbaren Gewirr von rostendem Eisen, in Mengen, die man als Laie gar nicht begreifen kann.

7 Gefreite wurden Unteroffiziere. Aus diesem Anlaß wurde getrunken. Abends. U. a. mußte ich solo singen und hatte damit einen durchschlagenden Heiterkeitserfolg. – SpĂ€t ins Bett, spĂ€t auf. Heute ist Sonntag. Man merkt es nur am Nichtstun. Draußen ist es trĂŒb und kĂŒhl. Man sagt, in Simferopol blĂŒht der Wein. Hier will der FrĂŒhling gar nicht kommen.

Am Markt spielen die Landser Fußball und benutzen – oh, wie sinnig und delikat – den Galgen als Tor.

Stadtrand vor Cherson, den 17. MĂ€rz 1942, 14 Uhr Endlich haben wir Nikolajew verlassen und rollen nun an den Dnjepr. Die Straßen sind sehr belebt, Artillerie, Infanterie, Umschub, Pioniere, alles. Es ist kalt, daher die Straße gut, der Marsch geht ohne ZwischenfĂ€lle. Zum ersten Mal marschiert die Abteilung geschlossen. – Mittagsrast, Tanken von Fahrzeug und Mann. Nun auf nach Berislaw. Zuvor meldete sich mein neuer Bursche bei mir. Lust hat er offensichtlich keine.

Tschaplynka, den 19. MĂ€rz 1942, 7:50 Uhr

Vorgestern gelangten wir bei Einbruch der Dunkelheit noch nach Berislaw, hart am Dnjepr. Die Straße dahin war gut, die Fahrt ging flott, am Rande aber hĂ€uften sich die deutschen SoldatengrĂ€ber. – Ein Dorf mit einem schönen, melodischen Namen fiel mir auf: Tiaginka. Das Dorf bestand aus Katen, wie ĂŒberall, nur der Name machte es.

Berislaw ist auch ein Dorf, wenn auch ein grĂ¶ĂŸeres. Wir schliefen bei der Batterie in einer Schule auf Stroh. Abends im Soldatenheim bei markenfreien Frikadellen und saurem Most, Essigwasser schmeckt so Ă€hnlich, nur hat es nicht dieselbe beschleunigende Wirkung.

Wir werden aus Produkten des Landes ernĂ€hrt. QualitĂ€t vielfach schlecht, so daß manches weggeworfen werden mußte. So ist die ErnĂ€hrungslage nicht gut. Aber man organisiert sich so durch mit Eiern, Brot, HĂŒhnchen, HĂ€hnchen, mal Butter, mal Kartoffeln.

Gestern gingen wir ĂŒber das schon recht verdĂ€chtige Eis des Dnjepr. Die Maschinen mußten entladen werden. Die schwere Munition, jede Granate 100 kg, wurde von den Kanonieren ans andere Ufer getragen. Der Fluß ist dort schmal, nur etwa 200 m breit, aber 18–20 m tief. – Es ging alles glatt und verhĂ€ltnismĂ€ĂŸig schnell.

Dann eine flotte Fahrt mit Hindernissen ĂŒber Kachowka, Tschernaja-Dolina nach hier, Tschaplynka.

Die Offiziere der Abteilung sind im Haus des “Ortskommandanten”, eines SonderfĂŒhrers des Wirtschaftskommandos (Wiko), untergebracht. Diese Leute haben hier in wenigen Tagen schon beachtlich viel geschafft und fĂŒhren ein straffes Regime. Wir von der 9. Batterie jedoch quartieren uns im Bereich der Batterie ein, in einem leidlich sauberen Zimmer auf Stroh, zusammen mit unseren Burschen. – Am Abend sind wir beim Kommandanten zu einem Schnaps geladen. Wir wollten unsere Ruhe haben, gingen unlustig hin und gerne wieder her. In der Zwischenzeit entlud sich der meiste Spott auf den armen Verpflegungsoffizier der Abteilung, Olt. Weyl.

Auf der Straße zwischen Brom-Sawot und Ischun, 15 Uhr

Die Motoren sind heiß, wir machen Pause. – Wir, eine Zugmaschine und zwei KKW, haben vormittags noch in Tschaplynka Zusatzverpflegung organisiert, ganz im Widerspruch zur Abteilung. Herr Major gab mir daher auch nicht die Hand, als ich das Pech hatte, gerade mit meiner Maschine vorzufahren, als er aus dem Hause kam. Ergebnis: 110 kg Fleisch, 450 Eier, 400 kg Brot.

Nowo-Iwanowka, 17:30 Uhr

Um die Mittagszeit passierten wir Perkop auf der Landenge zur Krim. P. ist eine ganz berĂŒhmte Stadt von rd. 70 HĂ€usern, besser gesagt Katen, von denen 40 zerschossen sind. – Die Straßen sind nur zu charakterisieren nach dem Motto: “Dieser Weg ist kein Weg, und wer es dennoch tut, zahlt Strafe.” Es geht querbeet; wenn die Spur ausgefahren ist, fĂ€hrt man weiter ins Feld usw., so wird die “Straße” 100 m breit. Hier können die Fahrer ihre SĂŒnden abbĂŒĂŸen.

Die Zeichen schweren Kampfes mehren sich. Viele, viele GrĂ€ber, Berge von Geschoßkörben aller Kaliber, dichtgedrĂ€ngt, Panzerhindernisse in Gestalt von Stahlschienen, -schwellen, -trĂ€gern, feindwĂ€rts schrĂ€g tief in den Boden gerammt; PanzergrĂ€ben, Drahthindernisse, Dörfer besonders stark zerschossen. Dann und wann fĂŒhrt die Straße durch Minensperren hindurch.

WĂ€hrend der Fahrt merkt man plötzlich den FrĂŒhling. Die Sonne strahlt, der Himmel ist blau und – zum ersten Mal in Rußland – die Vögel singen. Da schlĂ€gt das Herz hoch, und man freut sich, daß der Winter vorbei sein soll. Ich sitze im Nachtquartier, einer russischen Kate, der Boden aus Lehm und Pferdemist gestampft. Sonst aber sauber und angenehm. – Es gibt HĂ€hnchen.