Der alte Priester ging noch einige letzte Schritte und lieĂź sich dann mĂĽde auf die Bank an der Seite der StraĂźe fallen. Er hatte sie schon zu Beginn des Anstiegs zur Stadt hinauf gesehen und immer wieder mit Sehnsucht hingeschaut. Er atmete einige Male tief ein, faltete seine Hände und dankte laut, dass er diese lange Reise ĂĽberstanden hatte. Er schloss die Augen … ein helles Licht durchschoss ihn. Die Landschaft um ihn herum hatte sich verändert: Der HĂĽgel zur Stadt hinauf war verschwunden, die Stadt hatte eine Stadtmauer bekommen, mit einem Tor und Wachen davor. Um die Stadt herum floss ein breiter Fluss. Der Priester erhob sich und ging einige Schritte Richtung Ufer, wo zu seiner Linken einige Frauen Wäsche wuschen und zu seiner Rechten, flussaufwärts, ein Boot mit Holz beladen auf ihn zukam. Hinter ihm hörte er plötzlich das Klappern von RĂĽstungen. Er erschrak, drehte sich um und sah einen Schatten auf ihn zufliegen – ein Schwert! Es traf ihn am Hals und drang tief ein. Er fiel auf seine Knie, griff an die Wunde und fĂĽhlte das warme Blut durch seine Hand strömen. Dann verlor er das Bewusstsein und fand sich einen Augenblick später in einigen Metern Höhe ĂĽber seinem eigenen Körper schwebend, der gekrĂĽmmt in einer Lache von Blut lag.
Freudige Schreie von Kindern rissen ihn aus dem Bild heraus. Er saĂź wieder auf der Bank am Eingang der Stadt und atmete schwer. Er schaute den HĂĽgel hinunter und erkannte weit unten auf der StraĂźe eine Frau, die einen Handwagen zog, und zwei Kinder, die um sie herum sprangen. Zwei Mädchen! Er lachte laut auf und schaute mit zugekniffenen Augen. Er erkannte Anna und ihre beiden Töchter Sophia und Maria – und lachte wieder, schĂĽttelte den Kopf und dachte: „Kaum, dass ich hier bin …“. Er legte seine Hände auf die Brust und schloss die Augen.
Wieder durchschoss ihn ein Licht. Er war wieder in einem Bild, wie in einem Traum, nur viel realer, als ob er Teil davon wäre. Zwei Frauen knieten dort nebeneinander, direkt vor ihm, in Schmerzen gekrĂĽmmt. Die eine hatte ihren Arm ĂĽber die andere gelegt, die an ihrem ganzen Körper zitterte. Sie begann langsam ihren Kopf zu heben, um hinaufzuschauen auf etwas, das hinter ihm zu sein schien. Er drehte sich um und sah ein riesiges Kreuz, aufgerichtet, ganz nah vor ihm, die Stelle, wo der Balken des Kreuzes in den Boden gerammt war. Er sah Blutstropfen. Sein Blick wanderte nach oben, zu den blutenden FĂĽĂźen eines Mannes, die mit einem Holznagel an den Balken geschlagen waren …
Ein naher Kinderschrei ließ den alten Mann wieder aufschrecken, das Bild verschwand, er schaute zu den Mädchen, die näher gekommen waren. Sophia half Maria gerade lachend aus einem Graben am Straßenrand heraus. Ihre kleine Schwester schaute sie grimmig an, schlug nach ihr, schubste sie weg und rannte los. Sie kam in seine Richtung, Sophia hinter ihr her. Maria sprang hinter die Bank und Sophia kam direkt auf ihn zu, genau beobachtend, was Maria machte. Sophia blieb stehen und schaute ihn überrascht an: „Hallo Simon.“ rief sie und sah ihm dabei kurz in die Augen, sie lachte und stieß sich dann mit beiden Händen an seinen Knien ab, um Maria zu erwischen, die versuchte von der Bank wegzukommen. Die beiden rannten davon.
„Willkommen, Simeon.“ rief Anna, er drehte sich zu ihr hin und lächelte. Sie setzte sich neben ihn. Sie schauten sich lange in die Augen. Dann lachte sie: „Schön, dass du wieder da bist.“ Er nickte: „Und was für ein schöner Zufall, dass ich euch drei zuerst sehe.“ Anna lächelte, sie rückte näher an ihn: „Und es ist immer noch der gleiche Grund, warum du die drei Tage von Jerusalem hierher gewandert bist?“ „Natürlich! Die beiden Mädchen werden kräftig, nicht?“ „Mh mh“. „Hast du schon einen Lehrer für sie?“, fragte er. „Nein, ich denke nicht, dass sie einen brauchen. Wofür? Das Leben hat hier alles, was sie lernen müssen. Und den Rest bringe ich ihnen bei.“ Simeon schaute sie nachdenklich an. Sie fragte ihn: „Siehst du etwas über einen Lehrer in deinen Bildern?“ Er schloss für einige Augenblicke die Augen. „Nein, nicht deutlich. Ein älterer Mann ist da manchmal. Aber ich habe sein Gesicht noch nicht gesehen. ––– Es kommt sowieso wie es kommen muss.“ „Du darfst mir nicht mehr sagen, oder?“ ––– „Hast du eine Frage?“ Er schloss die Augen. „Ja! Wird sie heiraten?“ „Ja, das wird sie, aber erst macht sie das Gleiche durch, was du erlebt hast.“
Anna wurde bleich im Gesicht und schaute von ihm weg. „Nein! Nein, das wird sie nicht.“ Sie verschränkte ihre Arme. „Du kannst nichts dagegen tun, dass es passiert? Es wird passieren.“ Anna schaute vor sich auf den Boden und schwieg. Nach einer Weile meinte er: „Aber es wird anders sein als bei dir –– sie hat eine Mutter, die versteht.“ „Ich hatte meine Tante!“ „Ja, Elisabeth hat dich verstanden.“ „Ein Kind vor der Ehe zu bekommen ist fĂĽr viele hier noch schlimmer als jemanden umzubringen.“ „Viel schlimmer! Die Reinheit der jĂĽdischen Frauen! Das ist ein Mythos. Das Wohl und Wehe des ganzen Volkes hängt davon ab, wenn nicht sogar der Menschheit ……. die Juden sind das auserwählte Volk.“ „Glaubst du, dass alle jĂĽdischen Frauen rein bleiben mĂĽssen?“ „Nein.“ Er schĂĽttelte den Kopf. „Ganz und gar nicht. Nur die Linie der Frau, die den Messias tragen wird, muss ––– die Priester haben nur irgendwann vergessen, wie man wissen kann, wer es ist. Nur deswegen sollen alle rein bleiben.“ Sie nahm seine Hand. „Du hast mir damals sehr geholfen. Das war schön. Das war ––– das war auch schön fĂĽr Elisabeth. –– Kommst du eigentlich wirklich nur wegen Sophia den ganzen Weg hierher?“ Er schaute sie fragend an: „Nur? Wie meinst du das?“
Sophia war mit ihrer Schwester zur Bank gekommen und sprang mit Schwung auf Simeons Schoß. Er fing sie mit seinen Armen auf, stöhnte kurz und lachte dann laut. Sophia lehnte sich zurück und genoss für einen Moment die warme Ruhe und Geborgenheit, die von Simeon ausströmte. Ihm traten Tränen in die Augen. Maria drängte sich heran und schob Sophias Bein weg: „Ich will auch mal.“ Sophia stand auf und Maria sprang auf die gleiche Weise auf den Schoß von Simeon.
„Wir mĂĽssen weiter“, meinte Anna, „es wird bald dunkel.“ Sie stand auf und griff nach den Händen der Mädchen. Die nahmen die Hände und winkten zu Simeon. Dann nahm Anna den Handwagen auf, lächelte Simeon noch einmal zu und sie gingen in Richtung Stadt. Er schaute ihnen lange nach. Ein wenig später meinte Sophia zu Anna: „Er muss immer weinen, wenn er mich sieht. Was ist das, Mutter?“ „Frag ihn mal …“ Sophia nickte: „Mh mh. Das werde ich.“