Lidia (2)

Michael Schmidt

Kapitel 10

Maria nahm zwei Handvoll mit Kräutern, die sie im Garten gepflückt hatte, und warf sie in einen Krug. Dann nahm sie heißes Wasser vom Herd und goss es darüber. Sie schnitt eine Zitrone in dünne Scheiben und tat sie dazu. Dann holte sie zwei Tassen vom Regal, stellte sie auf ein rundes Holztablett, dazu den Krug und ging mit beidem aus der Küche in ihr Zimmer, das sie sich mit Sophia teilte.

Sophia lag im Bett, mit dem Kopf zur Wand gedreht und die Bettdecke über sich gezogen. „Es gibt Tee“, sagte Maria sanft. Sie stellte das Tablett auf einen Hocker, der vor Sophias Bett stand, und setzte sich davor auf den Boden. Sie wartete. Nach einer Weile legte sie eine Hand auf Sophias Hüfte. Die reagierte nicht.

Maria: „HEY!“ Sophia murrte, drehte sich aber dann um und richtete sich auf. Sie saß mit dem Rücken zur Wand auf ihrem Bett und hielt sich an ihrer Decke fest. Beide schauten sich an. Sophia: „Sie haben sie …“ „… umgebracht“, ergänzte Maria, „das hast du jetzt schon hundert Mal gesagt.“ Sophia: „Du hast es nicht gesehen! Es war so furchtbar. Sie waren alle so blind, so voller Angst, keiner von ihnen war wirklich da, nur dunkelroter Hass, graugrüne Feigheit, dunkelblassblaue Lahmheit, schmutzig-gelber Neid, und alle total blind ––– außer Mutter …….. sie stand da …… und hat alles verstanden. Sie war bei sich! Das habe ich gesehen. Sophia atmete tief ein: … Und sie macht NICHTS!!“

Maria legte die Hände auf ihr Herz und schloss die Augen. Sophia fuhr fort: „Und das alles schoss mir zum Herzen hin, wollte in mich eindringen, mit Macht! Ich habe so eine Wut bekommen, meine Stimme konnte nicht so schreien, wie ich es in mir hatte. Ich habe geschrien und bin gerannt und wollte mich vor sie werfen, aber dann …“ Maria: „… dann hat Mutter dich abgefangen und weggetragen.“ Sophia: „Sie ist ein Mensch! Sie hat nichts getan! Das ist alles nur in ihren Köpfen, von den Priestern und den Leuten. Da ist nichts davon echt! Nichts! Sie hat nichts getan. Tomas hat was getan!“

Maria: „Es war auch in ihrem Kopf. Sie war mit ihm.“ Sophia: „Ja, vielleicht war auch etwas in ihrem Kopf.“ Maria: „Sie ist immer noch da drin gefangen. Sie kann nicht weg.“ Sophia stutzte und schaute zu Maria: „Hast du mit ihr gesprochen?“ Maria nickte: „Sie ist hier. Jetzt gerade. Siehst du sie nicht? Sie sitzt auf dem Hocker am Fenster.“ Sophia: „Nein. Du weißt, dass ich Tote nicht sehe.“ Maria: „Ich dachte, weil du ihr so nahe bist. Mach dich mal ruhig und leer und schau dann zum Stuhl hin. Es ist nicht ihr Körper, es ist nur sie und ihre Gedanken und Gefühle. Kannst du gar nichts spüren?“ Sophia: „Nein. Nichts.“

Sie spürte wieder nach, drehte dann ihren Kopf zum Stuhl und schloss die Augen. Plötzlich sagte sie: „Nein! Ich habe dich nicht im Stich gelassen!“ Maria lächelte: „Siehst du, sie ist da! Das war ihr Gedanke, auf den du geantwortet hast. Das ist einer von ihnen, die sie nicht auflösen kann: Warum habt ihr irgendwann nicht mehr so viel miteinander gespielt?“

Sophia überlegte. „Es war irgendwann langweilig ––– du hast dich irgendwann plötzlich mehr für Jungs interessiert als für Tiere. Und das habe ich nicht verstanden. Die Tiere brauchen uns. Die Jungs brauchen uns nicht. Du hast dich plötzlich so verändert.“ Sophia lauschte. „Und wer ist Lilith?“, sie schaute Richtung Hocker. Maria lächelte sie an: „Du weißt nicht, wer Lilith ist? Hmhmhm.“ Sophia: „Aber …. du meinst nicht die Dämonin? Lidia!?“

Sie spürte auf einmal viel mehr Energie vom Stuhl zu ihr herüberkommen und fühlte Lidia jetzt richtig. Sie sah sie nicht, aber fühlte sie so deutlich. Lidia: „Lilith war irgendwann einfach da. Und sie war so schön, so schön. Und sie hatte ein unglaubliches Feuer in den Augen, und dann bewegte sie sich so, dass ich gar nicht wegschauen konnte. Das war spannend. Und sie sagte mir, dass ich einen Körper habe, mit dem ich all das auch machen kann. Andere …. Männer ….. verlieren ihre Besinnung, wenn ich ganz in meinem Körper bin und froh und ihn strahlen lasse und bewegen, wie er sich bewegen will, und meinen Busen zeigen …“ Sophia: „Lidia!“ Sie schaute böse zum Hocker. „Lidia, das ist eine Dämonin, sie will dich in ihre Macht bekommen. Das ist gefährlich.“

Maria: „Und? Wir brauchen die Gefahr, um uns selbst kennenzulernen ––– hast du zu mir gesagt. Nicht nur einmal.“ Sophia: „Aber nicht mit Lilith. Sie will … Sie will, dass Frauen ….“ Lidia: „Sie will, dass Frauen sich pudelwohl in ihrem Körper fühlen und ihn nicht verstecken, sondern alles damit ausprobieren, was er kann.“ Sophia: „Das macht mir Angst.“ Lidia: „Das ist keine Angst, das ist Neid. Schmutzig-gelb. Ich kann das gut sehen.“

Sophia atmete tief ein: „Du hast Lilith getroffen und ab da hast du dich mehr für Jungs interessiert als für Tiere?“ Lidia: „Mhmh. Ja. ––– Danke! Jetzt ist etwas von mir weggeflogen.“ Sophia: „Das war es? Daran bist du gehangen?“ Maria: „Das war etwas davon, aber nicht alles.“

Maria und Sophia schauten auf den leeren Hocker und schlossen die Augen. Sophia erschrak. Sie sah plötzlich ein Bild von Lidia, sie sah sie und sah sie auch wiederum nicht. Aber es war ganz deutlich etwas da, was Lidia war. Lidia sagte ohne den Mund zu bewegen: „Ja, es ist noch etwas …. Die Menschen wollten mich nur weghaben. Sie haben Angst, herauszustehen aus der Menge, und wenn der links oder rechts von ihnen Angst bekommt, dann bekommen sie noch mehr Angst. Ich war ihnen völlig egal. Ich konnte weg. Sie wollten nur nicht selbst unter die Räder kommen. Sogar der Priester! Obwohl er anders war, er hat wirklich geglaubt, dass er das tun muss, wirklich geglaubt, mit seinem ganzen Herzen …. Oh, Gott! Aber die anderen … und ich wollte auch nicht herausstehen. Ich hatte so eine Angst, alleine dazustehen, gegen alle anderen, dass ich nicht einmal für mich kämpfen konnte. Und dann war ich allein.“

Sophia: „Warum hast du nicht geschrien, als Tomas dich angefasst hat? Du weißt doch, dass du das tun kannst. Und kratzen und beißen und treten. Wir haben das geübt.“ Lidia: „Er hat mir versprochen… er hat mich ausgetrickst … es war so kompliziert … wir waren schon so weit weg vom Dorf …“ Sophia: „Wie hat er dich ausgetrickst?“ Lidia: „Er hat … er hat mir gesagt, dass Alep auf mich wartet und draußen auf dem Felsen mit mir sprechen will, alleine. Er würde mich zu ihm führen, damit es nicht so auffällt.“ Sophia: „Und du wolltest zu Alep, koste es, was es wolle.“ Lidia: „Ja. Er hatte mich am Abend vorher geküsst.“ Sophia: „So richtig?“ Lidia: „Ja.“ Die drei schwiegen für einige Zeit.

Sophia: „Und warum bist du noch da? Lidia: „Wegen meiner Mutter und wegen dir. Aber mit dir ist das jetzt anders. Ich bin nur darin festgehangen, dass du mich verlassen hast. Aber das war nicht so.“ „Und deine Mutter?“ „Sie verzeiht sich nicht, dass sie mir nicht gesagt hat, dass ich verlobt bin. Und jetzt wünscht sie mich mit aller Kraft zurück, damit sie mir das sagen kann. Aber wenn ich bei ihr bin, neben ihr, wenn sie wäscht oder näht oder kocht, merkt sie es nicht. Und ich werde ihren Wunsch nicht los, er fesselt mich. Das ist wie ein Anker am Fuß.“

Maria: „Da musst du warten, bis sie das aufgibt.“ Lidia: „Ich weiß ––– und woran hängst du, Sophia? Ich sehe, dass dich auch etwas lähmt.“ Sophia: „Ich will nicht raus in diese Erwachsenenwelt. Die ist so voller Angst, etwas falsch zu machen. Das Gesetz ist so stark und gleich kommt die Strafe, anstatt das Verstehen davor zu setzen. Ich kann doch nicht strafen oder bestraft werden, ohne zu verstehen. Da komme ich nicht durch, wie man das machen kann, das schließt alle Herzen zu. Da ist kein Leben mehr, das ist nur noch das machen, was von einem verlangt wird und gleichzeitig im Geheimen zu schauen, wie man es für sich selbst bequem und einfach hat. Kein Risiko, kein Rausgehen, nicht wenn es wirklich um etwas geht. Normal sind alle nett zueinander, helfen einander, aber da, wo es wirklich um etwas geht, da erstarren sie. Und darin kann ich nicht leben. Darin will ich nicht leben.“ Lidia: „Jetzt hat sich auch etwas bei dir gelöst. Das kann ich ganz gut sehen. ––– Ich gehe mal zu meiner Mutter. Vielleicht habe ich ja Glück.“

Sophia schaute Maria an: „Sie ist weg.“ Maria nickte: „Und ist es besser?“ Sophia legte ihre Hand auf ihr Herz: „Ja, es ist besser. Ich glaube, ich kann mich wieder ein wenig mehr bewegen. Hast du die Tiere gefüttert?“ Maria lächelte und nickte: „Klar.“ Sophia: „Dann will ich jetzt einen Tee.“ Maria lächelte: „Gerne“.

Sie schenkte eine Tasse ein und gab sie ihr. Sophia umfasste sie mit beiden Händen und nahm einen Schluck. Dann schloss sie die Augen: „Aber es ist noch nicht weg. Ich weiß jetzt mehr, warum ich festhänge, aber die Menschen …“ Maria zuckte mit den Schultern und schaute Sophia an: „… sind so wie sie sind.“ „Aber wie soll ich meinen Weg da durch finden? Ich meine, da waren alle so …. so blind …. so hart wie Stein …. und so in sich verschlossen.“ „Sie sind ja nicht immer so. Nur wenn sie Angst haben.“ „Sie haben immer Angst, mal mehr und mal weniger.“ „Mutter hat keine Angst.“ „Manchmal.“ „Selten.“

Maria streckte sich, nahm ihre Arme nach hinten und ging leicht ins Hohlkreuz, so dass sich ihr Busen leicht im Hemd abzeichnete. Sie lachte: „Oder mit Liebe …“ Sophia schaute sie grimmig an: „Maria! Du bist 12!“, musste dann aber lachen. „Hast du auch …. mit …. Lilith gesprochen?“ „Klar! Nach dem, was Lidia mir erzählt hat, sofort.“ Sophia schaute Maria in die Augen und lachte.

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