
Sophia saß auf ihrer Bettkante. Sie war alleine im Zimmer. Sie beugte sich leicht nach vorne und schaute zur Seite zum Hocker am Fenster. Sophia: „Meinst du so? ––– Noch ein wenig mehr Hohlkreuz? ––– Ahhh! Ja. Bis ich die Energie nach vorne zur Brust herausfließen spüre.“ ––– Ohhh, ja, jetzt fühle ich etwas! Das ist schön!“ Sophia hielt einige Momente in dieser Haltung aus und drehte sich dann Richtung Stuhl. Der war äußerlich leer, aber so, wie sie auf dem Hocker ein paar Tage zuvor Lidia gesehen hatte, sah sie jetzt eine etwa 30-jährige Frau in einem schönen, luftigen Kleid, mit einem freien Lächeln und funkelnden Augen voller Energie und Humor. Sophia: „Zeig mir noch etwas! ––– Gut ––– Ich weiß, ich muss mir die Haare noch ein wenig wachsen lassen … ––– Okay, ja, ich muss nicht … nur für das.“ Sophia stützte ihre Hände ein Stück hinter ihrem Rücken auf das Bett und ließ ihren Kopf nach hinten fallen. „Brust noch ein wenig mehr nach oben ––– ja, ich verstehe, ohh, das fühlt sich auch schön an.“ Die Tür öffnete sich und Anna kam herein. Sophia drehte sich abrupt zur Tür und schaute ihre Mutter an. Sie schaute kurz auf den Hocker, dann wieder auf sie. Anna: „Wie geht es dir jetzt? Bist du heute schon draußen gewesen?“ Sophia: „Ja, ich war die Tiere füttern und neues Wasser holen. Und ja, es geht ganz gut.“ Anna setzte sich zu ihr aufs Bett und strich ihr über die Haare: „Sophia, wir haben Besuch. Er ist ein Freund von Zacharias. Ich hätte gerne, dass du mit ihm sprichst, wegen der Steinigung. Er kann vielleicht herausfinden, ob dir deswegen etwas fehlt.“ Sophia: „Mir fehlt nichts, was ich einfach so bekommen könnte. Oder kannst du machen, dass die Menschen sich nicht mehr so einfach selbst vergessen und dann andere Menschen umbringen? Ich will da nicht raus, weil da überall Leute sind, die da mitgemacht haben.“ Anna: „Aus unserem Dorf waren es wenige.“ Sophia: „Die, die dabei waren, sind immer noch da. Keiner schickt sie weg.“ Anna: „Das ist auch nicht so einfach. Du kannst die Regeln und Gesetze nicht so einfach wegtun, da müsstest du selbst König sein und bräuchtest dich ein ganzes Leben darauf vorzubereiten, damit du weißt, was du tust, und nicht Regeln und Gesetze machst, die schädlich für uns sind.“ Sophia: „Ich will da nicht raus!“ Anna: „Vielleicht weiß Zacharias’ Freund etwas darüber, wie man macht, dass sich Menschen nicht gegenseitig umbringen.“ Sophia schaute sie fragend aus dem Augenwinkel an. „Komm, er wartet draußen bei den Tieren.“ Sophia: „Willst du das wirklich, Mutter, dass ich mit ihm spreche?“ Anna nickte. Sophia erhob sich ein wenig widerwillig vom Bett und ging an ihrer Mutter vorbei zur Tür hinaus und in den Hof. Am Hasenkäfig stand Josef mit dem Rücken zu ihr und streichelte eines der kleinen Häschen, das er auf seine Hand gelegt hatte. Sophia schaute ihn an. Sie staunte. Nach einer Zeit drehte sich Josef um und schaute sie mit einem warmen Blick an: „Oh, hallo!“ Sophia schaute skeptisch zurück: „Du hast gar keine Angst um dich herum. Ich kann gar keine sehen. Sogar meine Mutter hat immer ein wenig.“ Josef nickte. Sophia: „Das heißt aber nicht, dass du keine Angst hast, sie ist nur gerade verborgen. Aber wie machst du das? Du bist an einem fremden Ort, du kennst mich nicht …“ Josef lächelte und hielt ihr das Häschen entgegen: „Das hier hat auch keine Angst. Ihm scheint es hier gut zu gehen bei dir.“ Sophia: „Das da ist tot geboren und dann wieder gekommen. Dann werden die so.“ Josef nickte.
Sophia: „Meine Mutter meint, dass du vielleicht weißt, was man machen kann, damit sich die Menschen nicht selbst verlieren und gegenseitig umbringen.“ Josef lachte: „Hat sie das gesagt? ––– Nein, das weiß ich nicht.“ Sophia: „Sie haben meine Freundin umgebracht. Aber es heißt doch im Gesetz: Du sollst nicht töten.“ Josef: „Ja, wie du sagst, sie haben sich verloren und dann kann das passieren.“ Sophia schaute ihn an. Josef: „Das macht die Angst. Sie verirren sich in ihrer Angst.“
Sophia: „Das habe ich alles schon selbst herausgefunden. Hast du auch etwas Neues? Etwas, was ich noch nicht weiß?“ Josef: „Ja.“ Sophia: „Ja? ––– Und?“ Josef: „Du hast noch nicht gefragt.“ Sophia: „Ich habe gefragt: Hast du auch etwas, was ich noch nicht weiß?“ Josef: „Und ich habe geantwortet: Ja.“
In Sophia stieg eine Wut auf. Josef schaute sie an. Dann setzte er sich mit dem Häschen in der Hand auf den Boden. Das verwirrte Sophia ein wenig. Nach einer Zeit kam sie näher und stellte sich direkt vor ihn. Sophia: „Wie machst du das? Du hast immer noch keine Angst. Nicht einmal, wenn ich so mit dir spreche. Erwachsene werden sonst immer ein wenig nervös oder überheblich oder sie wenden sich ab. Du bleibst einfach ruhig bei mir.“
Josef schloss seine Augen und atmete ruhig: „Ich … vielleicht bin ich zufrieden mit mir, mit der Welt und allem, was mich umgibt, und bleibe es auch, wenn du sagst, was du sagst. Es ist ja keine Gefahr da. Du kannst alles von mir sehen, wenn du willst. Ich muss nichts verstecken. Und ich muss auch nicht etwas Bestimmtes erreichen oder auf eine bestimmte Weise sein.“
Er öffnete die Augen und schaute sie an: „Aber du hast recht: Wenn ich Menschen begegne, ist die Gefahr ziemlich groß, dass ich irgendwann in irgendeiner Art von Angst lande. Angst ist ansteckend, auf eine Weise. Aber hier bei dir in deinem Haus ist die Gefahr nicht groß. Du hast ja auch fast keine Angst.“ Sophia: „Fast keine? Wovor habe ich Angst?“ Josef: „Davor, dass du aus dem Haus gehst und erkennst, dass die Menschen so sind, wie sie sind, und dass das in Ordnung ist, weil es in Ordnung ist, unvollkommen zu sein, weil jeder Mensch unvollkommen ist. Und das passt nicht dazu, dass du verhindern willst, dass sie so etwas wieder tun. Und da … denkst du irgendwo falsch und dann bekommst du Angst und willst nicht aus dem Haus gehen.“ Sophia sah ihn erstaunt an. Nach einer Weile setzte sie sich vor ihn. Sie hielt sich die Hände vors Gesicht: „Sie werden es wieder tun. Ich weiß es. ––– ABER WIE KANNST DU SAGEN, DASS DAS OKAY IST?“, sagte sie mit Wut in der Stimme. Josef antwortete leise: „Es ist nicht okay. Aber sie sind okay. Nur was sie tun, ist nicht okay. Sie merken das nicht.“
Sophia: „Aber das ist keine Lösung, sie verstricken sich immer mehr in ihre Lügen.“ Josef: „Ja. Das stimmt.“ Sophia: „Einfach so: Ja, und fertig, das war’s? Du bist so alt, hast viel gesehen, verstehst viel und hast keine Angst und du verstehst, was passiert, und lässt es einfach so sein?“ Josef dachte kurz nach und sagte dann: „Ja.“ Sophia: „Das ist doch feige! Du gibst auf, weil du denkst, dass du nichts tun kannst. ––– Aber du sitzt hier und bist nicht verzweifelt, du hast eine Wärme, dass ich dich am liebsten umarmen würde.“ Sie atmete ein und wieder aus, schloss für einige Momente die Augen und schüttelte dann den Kopf. „Du glaubst also, dass die Menschen nicht verloren sind, du glaubst, dass es eine Rettung gibt?“ Josef: „Ja.“ Sophia hielt sich die Hände vor die Augen: „Aber wie?“ Josef lächelte sie an: „Das weiß ich nicht.“
Er wartete einige Augenblicke und schaute dann Sophia direkt in die Augen. „Das wäre NICHT GUT, wenn ich das wüsste, weil ich dann dir und den Leuten erzählen würde, was sie tun können. ––– Ich würde das tun, ich weiß das. Und deswegen ist es gut, dass ich es nicht weiß.“
Sophia nahm die Hände von den Augen und sagte bestimmt: „Damit jeder selbst darauf kommen kann!“ Josef nickte: „Es hat nur Kraft, wenn die Menschen selbst darauf kommen. Sonst ist es einfach nur Weisheit, wertlose Weisheit. ––– Nur können die meisten Menschen nicht selbst darauf kommen … eigentlich kann das keiner. ––– Du und Maria, ihr habt etwas verstanden durch die Steinigung. Auch weil ihr mit Lidia sprechen konntet. Wirst du das, was Lidia gesagt hat, jemals wieder vergessen?“ Sophia: „Nein, nie.“ Josef: „Jeder, der etwas verstanden hat, kann lernen, wie es anders geht. Aber die allermeisten Menschen können das nicht. Sie können vielleicht verstehen, aber sie können dann nicht daraus lernen, weil sie sich dann eigene Gedanken machen müssten. Und das können sie nicht. Das können sie, aber nur mit praktischen, äußeren Dingen. Sie können nicht etwas denken, was nur innen ist und was nicht auch andere um sie herum denken. Sie können sich keine eigenen, neuen Gedanken machen, sie holen sich, was sie denken, von anderen, und die auch. Und da kommen wir nicht weiter, da bleiben wir stecken … ja, so sind wir Menschen. Das können wir nicht, aber ich denke, wir können es NOCH nicht.“
Sophia: „Der Messias! Er kommt, um uns Menschen zu zeigen, wie wir neu denken können, wie wir selbst denken können, wie wir lebendige Gedanken neu erschaffen können.“ Josef schaute Sophia erstaunt an und lachte: „Woher …? Woher nimmst du das jetzt?“ Sophia: „Es kam gerade. Das ist manchmal so bei mir. Aber denkst du das auch?“ Josef nickte: „Ja, das denke ich auch. ––– Wir können das alleine nicht schaffen. Wir brauchen jemanden, der uns zeigt, wie wir über unsere Grenzen hinaus denken können. Wie wir mit lebendigen Gedanken unser Leben heilen können und das der Menschen um uns herum.“
Sophia: „Und wann kommt er?“ Josef lachte, dann sagten beide zur gleichen Zeit: „Zur richtigen Zeit.“ Beide lachten und schauten sich an. Sophia: „Jetzt verstehe ich, dass du sagst, dass du nichts tun kannst.“ Josef nickte. Sophia: „Und wenn der Messias kommt, dann vertreibt er auch alle Dämonen, oder?“ Josef lächelte: „Wenn sie nicht mehr gebraucht werden, dann verschwinden sie, aber das wird eine Zeit lang dauern. Aber am Ende werden sie gehen. Zum Beispiel Lilith …“ Sophia schaute ihn aus den Augenwinkeln an: „Du hast vorhin gesehen, dass ich mit Lilith gesprochen habe, nicht?“ Josef nickte: „Ja, beim Hereinkommen. Ich kenne sie gut. Sie ist oft bei mir.“ Sophia schaute ihn erstaunt an: „Wieso? Ich dachte, sie ist für Frauen da.“ Josef: „Du fühlst dich gut in deinem Körper, wenn du dich so bewegst, wie sie vormacht, und so denkst, wie sie dir sagt, nicht?“ Sophia nickte. Josef: „Das Besondere an dem, was Lilith macht, ist, dass es nicht nur in Frauen wirkt, sondern auch bei Männern. Die können durch die Bewegungen von Lilith eine noch stärkere Energie in sich erleben, als du das kannst. Es zieht sie mit großer Kraft dahin, und das öffnet das Fantasieorgan in der Mitte des Kopfes, und so können neue Gedanken entstehen. Ich schaue sie so gerne an. Viele Männer wollen sie dann lieber besitzen und benutzen ihre Fantasie dafür, was sie mit ihr mehren könnten, ich will lieber neue Gedanken haben.“
Sophia staunte ihn an: „Darüber muss ich sie einmal fragen.“ Sie stützte ihre Hände hinter ihrem Rücken ab und neigte ihren Kopf vorsichtig nach hinten, ihre Haare fielen über ihre Schulter. Dabei schaute sie die ganze Zeit genau auf Josef. Der schaute sie eine Weile ruhig an und lachte dann: „Du hast schon was gelernt.“ Sophia: „Und du hast recht. Ich habe gesehen, dass bei dir mitten im Kopf plötzlich viel mehr Energie da war. Es funktioniert. Und hast du neue Gedanken bekommen?“ Josef: „Ja, das habe ich. Nächste Woche bekomme ich einen neuen Ochsen auf meinen Hof. Magst du ihn zusammen mit deiner Schwester bei mir auf dem Hof willkommen heißen? Klophas wird auch da sein.“ Sophia: „Klophas? Der frühere Mann meiner Mutter?“ Josef lachte: „Nein, ein Klophas aus Fleisch und Blut und etwa so alt wie du. Das ist mein Lehrling.“ Sophia: „Ja, da komme ich gerne. Und Maria bestimmt auch.“
