
Am Morgen des Tages, an dem sie zu Josef gehen wollten, stand Sophia eine Stunde früher auf. Sie holte frisches Wasser vom Brunnen und Heu aus einem kleinen Schuppen und brachte beides zu den Tiergehegen. Sie nahm das kleine Häschen, das Josef auf seiner Hand gehabt hatte, und streichelte es eine Weile. Sie überlegte, ob sie es mitnehmen sollte, entschied sich aber dagegen. Dann ging sie in die Küche, zündete ein Feuer im Herd an und stellte einen Topf mit Wasser darauf. Ihre Mutter schaute ein wenig verschlafen in die Küche: „Du bist früh auf!“ Sophia: „Ja. Ich konnte nicht mehr schlafen. Ich freue mich auf die Reise.“ Anna: „Es ist das erste Mal seit langem, dass du die Stadt verlässt …“ Sophia: „Das erste Mal seit Lidia umgebracht wurde.“ Anna nickte: „Ja ––– das wollte ich nicht sagen.“
Eine Stunde später waren sie zu dritt auf dem Weg. Maria trottete ein wenig lustlos hinter ihnen her und kickte ab und zu einen Stein die Straße herunter oder an eine Hauswand. Anna und Sophia beachteten sie nicht, es war ja klar, dass Maria nicht voller Freude war, eine so lange Wanderung zu einem Ort zu machen, wo sie niemanden kannte. Aber allein zu Hause bleiben konnte sie auch nicht. „Ich gehe noch schnell zu den Marktständen und kaufe einen Schinken für Josef“, meinte Anna und bog in die Straße ein, die zum Marktplatz führte. Sophia schaute Maria fragend an und deutete mit der Hand, ob sie zusammen Mutter folgen sollten, aber Maria schaute in eine andere Richtung, zog ihre Lippen zusammen und deutete dann auf eine Stelle weiter oben auf der Straße. „Was?“, fragte Sophia, „was meinst du?“ Dann sah sie, was Maria meinte. Sie erstarrte. Dort stand Tomas, halb mit dem Rücken zu ihnen, mit seinen beiden älteren Brüdern.
Sophia stürmte los. Sie stoppte erst, als sie fast hinter Tomas war, und haute ihm fest auf die Schulter, sodass sie noch ein wenig den Hals erwischte. Tomas drehte sich um und schaute sie erstaunt an. Sie starrte ihn an und schubste ihn dann, der einen halben Kopf größer war als sie, mit Kraft von sich weg. Er landete in den Armen eines seiner Brüder. Sophia rief: „Sie ist tot! Tot! Weil du zu feige warst.“ Tomas schaute verwirrt. Sophia: „Sie wollte nicht mit dir mit. Du hast sie reingelegt.“ Sie schubste ihn noch einmal so stark sie konnte. Tomas stolperte nach hinten und fiel mit seinem Hintern auf einen Stein. Er stöhnte, sprang auf, packte Sophia und riss sie zu Boden. Dort hielt er sie fest. Sophia spuckte ihn an: „Du hast dich nicht im Griff. Siehst du!“ Sie versuchte, sich zu befreien.
Der Ältere der Brüder packte Tomas an seinem Hemdkragen, riss ihn hoch und schlug ihn mit Kraft ins Gesicht. Tomas fiel auf den Boden und blieb liegen. Er hielt sich seine Backe. Sophia stand auf und schaute den Bruder mit einem bösen Blick an: „Und er ist immer noch dein Bruder. Schande über dich!“ Sie drehte sich um und ging mit wütenden Schritten zurück zu Maria. Der andere Bruder ballte eine Faust und wollte ihr folgen, aber der Ältere hielt ihn zurück.
„Was war da?“, fragte Anna, die gerade zurückgekommen war und von Weitem Sophia mit der Gruppe von Jungs gesehen hatte. Maria zuckte mit den Schultern. Sophia: „Ach, nur Tomas. Er ist ein Arschloch. Ich habe ihn geschubst, und er hat mich zu Boden gestoßen und dann festgehalten.“ Anna: „WAS? Er hat dich zu Boden gestoßen und festgehalten?“ Sie drehte sich zu der Jungsgruppe und ging in ihre Richtung, bis die sie erkannten und wegrannten. Anna atmete aus: „Lassen wir das für heute sein. Das ist eine schlimme Bande. Lasst uns gehen.“
Nach einer langen Wanderung, mit einer Pause in der Mitte, in der Sophia und Maria in einem Teich baden konnten, bogen sie in das Tal ein, in dem Josef seinen Hof hatte. Josef wartete auf dem Platz vor dem Hof und verfolgte, wie die kleine Gruppe den mit Rosen bewachsenen Weg hinaufkam. Oben angekommen, lächelte er Anna an und gab ihr die Hand. Dann streckte er seine Hand Maria entgegen, die sie ein wenig skeptisch nahm und nur kurz drückte. Er wandte sich zu Sophia, die aber, statt seine Hand zu nehmen, näher kam und ihn umarmte. Anna und Maria schauten erstaunt zu.
„Willkommen!“, sagte Josef dann zu allen. „Der Ochse wird in einer Stunde hier sein. Ich zeige euch gerne meinen Hof vorher, wenn ihr das wollt.“ Alle nickten. Und so begannen sie eine Runde auf dem Hofplatz, zunächst der Stall, wo ein Esel seinen Kopf aus dem Fenster streckte. Als die vier auf ihn zukamen, schrie er in der pumpenden Weise, wie Esel schreien, nur um einiges lauter als normalerweise. Maria und Sophia hielten sich die Ohren zu. „Er freut sich, euch zu sehen!“, meinte Josef. „Er scheint euch schon zu mögen.“ Sophia ging auf ihn zu und wollte ihre Hand auf seine Schnauze legen, aber er schnappte nach der Hand. „Sie hat nichts zu fressen, Anton“, meinte Josef von hinten. Der Esel neigte seinen Kopf und drehte ihn zur Seite. Sophia strich ihm mit der Hand über den Hals. Nach einer Weile drehte der Esel den Kopf und hielt ihr die andere Seite des Halses hin. Alle lachten. Sophia kam noch ein wenig näher und umarmte seinen Kopf, was der Esel ruhig entgegennahm. Josef nickte: „Ihr mögt euch …“ Sophia: „Ich will auch einen Esel.“ Josef: „Es sieht ganz danach aus, als hättest du jetzt einen.“
Als die Gruppe vor der Zimmerei stand, öffnete sich die Tür, und Klophas kam heraus. Er lächelte in die Runde und erstarrte. Er blieb einfach auf der Stelle stehen und sagte nichts. Josef: „Das ist Klophas, mein erster Lehrling seit 20 Jahren. Klophas, das sind Anna, Sophia und Maria.“ Klophas brachte kein Wort heraus. Anna trat zu ihm hin, schaute ihn intensiv an und streckte ihm ihre Hand entgegen. Er schaute zurück, nahm sie und lächelte. „Klophas, zeig uns dein Pferd!“, sagte Josef, und Klophas nickte. „Er hat ein Pferd?“, fragte Sophia erstaunt. Klophas nickte und ging zur Werkbank, die vor der Zimmerei stand. Er griff unter sie, holte ein Schaukelpferd hervor und stellte es stolz auf die Werkbank. „Für Kinder bis sechs Jahren“, meinte er in einem sachlichen Ton. Sophia lachte: „Ein Schaukelpferd!“ Sie ging zum Tisch und strich mit ihren Händen über es. „Es ist sehr schön! Wir haben auch so eines bei meiner Tante Elisabeth. Maria, komm, schau!“ Maria schaute Sophia an und kam dann. Sie strich einmal mit der Hand über das Pferd: „Ja, es ist schön, schön glatt.“ Klophas schaute sie an, aber sagte nichts. Josef schmunzelte. Er ging zu ihm, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte leise zu ihm in sein Ohr: „Na, das ist eine beeindruckende junge Frau, nicht wahr?“ Klophas schaute ihn erstaunt an, drehte sich dann zu ihm und richtete sich auf. Er sagte in normalem Ton: „Ich habe mich kurz verloren. Ich glaube, ich habe mich wieder.“ Dann wandte er sich um und ging auf Sophia zu, streckte ihr die Hand entgegen und sagte: „Ich habe dich noch nicht begrüßt. Hallo.“ Er lächelte sie warm an. Sie lächelte zurück und nahm die Hand. Dann drehte er sich zu Maria und begrüßte sie auch. Anna schüttelte leicht den Kopf und sah dann zu Josef. Der lächelte, zuckte mit den Schultern und sagte leise: „Das ist Klophas …“
Nach einer Stunde kam ein Bauer mit dem neuen Ochsen den Weg zum Hof hinauf. Sophia und Maria liefen ihm entgegen. Sophia lief direkt auf den Ochsen zu, er war groß und sehr kräftig. Der Bauer hielt ihn an. Sie stellte sich direkt vor ihn und umfasste seinen riesigen Kopf. „Vorsichtig!“, sagte der Bauer, „das ist kein Stier, aber er kann böse werden.“ Sophia drückte ihre Wange an seinen Kopf und sagte: „Willkommen!“ Der Ochse blieb ruhig. Maria hatte inzwischen einen Büschel Kräuter und Blätter gesammelt und hielt sie dem Ochsen hin. Der nahm es mit seiner langen Zunge und fing an zu kauen. Sie strich ihm auch über den Kopf und sagte ihm ins Ohr: „Darf ich auf dir hinaufreiten?“ Der Ochse reagierte nicht. Maria rief: „Danke!“ Lief um den Bauern herum und deutete an, dass sie hochgehoben werden wollte. Der Bauer zögerte, aber tat es dann.
So kamen die drei mit dem Ochsen den Aufweg zum Hof hoch. Maria lachte die ganze Zeit, sie fühlte sich sichtlich wohl oben auf dem Ochsen. Klophas schaute gebannt auf sie, die hoch oben auf dem Ochsen thronte und hin und wieder die Arme ausbreitete und in den Himmel schaute. Josef meinte leise zu ihm: „Das sind keine normalen Mädchen. Das kann man gut sehen, oder nicht?“ Er lächelte. Klophas antwortete nicht. Maria sprang direkt vor ihm vom Ochsen herunter und lachte ihn an.
Sophia ging auf Josef zu: „Was machen wir jetzt mit ihm?“ Josef: „Zuerst wird er einmal gründlich gewaschen. Ein Willkommenswaschen. Wollt ihr das machen?“ Sophia rief: „Jaa!“ Maria: „Ich auch!“ Josef: „Dann hole ich mal zwei Bürsten. Klophas, kannst du einen großen Eimer mit Wasser vom Brunnen holen?“ Klophas: „Mache ich. Und für mich auch noch eine Bürste.“
Die drei hatten viel Spaß beim Schrubben des Ochsen, und der offensichtlich auch, er gab keinen Mucks von sich und ließ alles über sich ergehen. Anna und Josef saßen einige Meter weiter auf einer Bank und blickten ins Tal hinunter. Manchmal schauten sie zu den dreien und freuten sich. Die fingen an, sich auch gegenseitig zu bespritzen. Josef: „Erstaunlich, dass Klophas da so mitmacht. Er ist sonst bei allem sehr korrekt und genau. Er geht sehr selten aus sich heraus. Und so habe ich das noch nicht gesehen bei ihm.“ Anna: „Ja, wenn die Mädchen spielen, dann bleibt nichts trocken. Nicht einmal bei Simeon. Du kennst ihn ja, nicht?“ Josef schmunzelte: „Ich kenne ihn sehr gut.“ Anna: „Sophia springt ihm manchmal einfach so auf vollem Lauf auf den Schoß und umarmt ihn.“ Josef: „Ja, das wird er sonst nirgendwo so erleben.“ Beide lachten. Josef zeigte in Richtung Horizont: „Siehst du den geraden Strich von dunklen Wolken da hinten?“ Anna nickte. Josef: „Das ist ein Sturm. Er wird wohl in etwa zwei Stunden hier sein.“ Anna: „Meinst du? ––– Wir wollten noch zu Elisabeth und Zacharias in ihr Dorf. Dann warten wir den Sturm vielleicht ab.“ Josef stand auf und schaute Richtung Horizont: „Ich sehe das Ende nicht. Ich kann nicht sagen, wie lange das dauern wird, vielleicht ist es dann dunkel. Wenn du sie noch im Hellen treffen willst, dann musst du bald gehen, denke ich.“ Anna: „Das sieht bedrohlich aus. Aber kannst du das so genau sagen?“ Josef: „Die Wolken haben eine eigene Sprache. Ich bin noch nicht ganz drin, aber ein paar Dinge weiß ich schon.“ Anna: „Ja, dann lassen wir die drei noch den Ochsen waschen und brechen dann auf. Wir können ja morgen früh wiederkommen, ich fühle, wir sind noch nicht fertig mit unserem Treffen.“ Josef: „Ja, gerne! Jederzeit. Ich werde zusammen mit Klophas für euch ein Essen zubereiten.“ Anna lächelte. Dann stand sie auf und ging zu den dreien, die inzwischen ziemlich nass waren: „Ich sehe, dass ihr mit dem Ochsen schon fast fertig seid, oder?“ Maria: „Bald, bald, die Füße noch, aber ich werde hier die ganze Zeit gestört von Sophia.“ Sie tauchte ihre Bürste ins Wasser und schleuderte die Bürste in Richtung Sophia. Sophia lachte und rief Anna zu: „Wir sind bald fertig … wenn Maria endlich ihre Füße fertig machen würde, statt immer mit Wasser zu spritzen.“ Sie tauchte ihre Bürste ins Wasser und tat so, als würde sie sie in Richtung Maria schleudern, schleuderte sie dann aber in Richtung von Klophas. Der schrie auf: „Sophia! Das geht so nicht. Ich habe dir nichts getan.“ In dem Augenblick kam eine Dusche von Maria zu ihm herüber, und er ging in Deckung: „Hilfe! Ich werde angegriffen. Überfall!“ Anna lachte. „Okay, Kinder! Wir gehen bald. Schaut, dass ihr bis dorthin den Ochsen im Stall habt und er auch etwas zu futtern hat.“ Anna und Klophas riefen: „Okay.“ Sophia sprang auf ihre Mutter zu: „Nein, wir gehen noch nicht. Ich will noch …“ Anna unterbrach sie und zeigte in Richtung der dunklen Wolken: „Josef meint, wir bekommen ein Gewitter. Und wir haben Elisabeth und Zacharias versprochen, dass wir heute kommen. Und wir können auch nicht hier übernachten.“ Sophia: „Bitte!, ich habe das Tempelhäuschen noch nicht richtig angeschaut.“ Anna: „Doch, wir waren drin.“ Sophia: „Aber ich habe so viele Fragen. Die will ich noch stellen. Und bei Eli und Zach waren wir schon oft.“ Anna: „Du kannst morgen fragen. Wir kommen morgen zurück. Josef kocht uns dann etwas.“ Sophia schaute traurig. Josef stellte sich neben die beiden: „Ein Gewitter ist eine gute Gelegenheit, im Tempelhäuschen zu sprechen. Da ist viel Energie im Raum, wenn es außen blitzt und donnert. Ich bin sicher, dass das Sophia gefallen würde. Ich kann sie nach dem Sturm gerne zu euch bringen.“ Sophia lächelte und nickte ihm zu. Anna: „Bist du sicher, dass du alleine hier bleiben willst?“ Sophia: „Ich bin ja nicht alleine. Josef ist hier und mein Schutzengel und die anderen Engel auch.“ Anna schloss ihre Augen. Sie fragte innerlich ihren Schutzengel, ob sie es so machen sollte. Dann öffnete sie ihre Augen und sagte: „Ja, so machen wir es!“
Als der Ochse im Stall neben dem Esel stand und an seinem Heu kaute, packten Anna und Maria ihre Reisebeutel und wollten sich auf den Weg machen. Klophas streckte Maria seine Hand entgegen, die sie nahm. Klophas: „Ich will nicht, dass du gehst. Es war so lustig.“ Anna: „Wir kommen morgen zurück.“ Maria: „Aber du kannst auch mit uns kommen. Eli und Zach haben da nichts dagegen, das weiß ich. Sie mögen überraschenden Besuch sogar ganz besonders. Das hat mir Zach einmal gesagt. Sie drehte sich zu Anna: „In solchen Überraschungen steckt immer ein Zauber. Das hat er gesagt. Wirklich!“ Anna: „Nein, ich glaube nicht, dass das jetzt passt.“ Maria: „Doch, das glaubst du. Du hast nur Angst. Ich kann das sehen. Vor was eigentlich?“ Anna schloss die Augen. Nach einer Weile sagte sie: „Gut. Klophas, gehen wir. Maria hat recht, die beiden werden sich sehr freuen.“
Zwei Stunden später zog das Gewitter direkt über den Hof. Ein Blitz schlug auf der anderen Seite des Tals ein, direkt gefolgt von einem lauten Donnerschlag. Sophia und Josef saßen in dem Tempelhäuschen auf Sitzkissen, und Josef beantwortete eine Frage Sophias nach der anderen. Nach einem besonders mächtigen Donnerschlag waren beide eine Zeit lang still. Dann sagte Sophia: „Das ist eine wunderbare Energie gerade hier. Jetzt ist es Zeit, mit Lilith zu sprechen, nicht?“ Sie lächelte. Josef: „Jetzt mit Lilith sprechen?“ Er lachte. „Das habe ich noch nicht gemacht während eines Gewitters. Wir können es probieren.“
Er stand auf, holte ein drittes Kissen und legte es so, dass sie im Dreieck sitzen würden. Er nahm ein Bild von Lilith aus einem Fach des Altars, schaute es an und stellte es dann wieder zurück. Dann nahm er eine brennende Kerze und wollte sie gerade hinstellen, da spürte er einen leichten Windhauch im Raum. Er stellte die Kerze neben das Bild und drehte sich um. Auf dem Kissen saß eine wunderschöne, leise lächelnde Frau in einem schönen, luftigen Seidenkleid. Sophia staunte sie mit großen Augen an: „Ich kann sie sehen! Mit meinen normalen Augen. Ich kann dich sehen, Lilith! Wie geht das?“ Lilith: „Nein, du siehst mich nicht mit deinen normalen Augen. Das ist nur ein besonderer Ort hier. Vor dem Altar kann ich dir viel lebendiger erscheinen als in deinem Schlafzimmer. Aber ich habe keinen Körper. Du erzeugst das Bild von mir ganz selbst ––– aber ich helfe dir dabei so gut ich kann.“ Sie schaute Josef mit funkelnden Augen an: „Was wollt ihr sehen oder machen?“ Josef schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Sophia: „Ich will sehen, was das mit Josef macht, wenn er dich anschaut.“ Josef lächelte: „Ja, das ist interessant. Das glaube ich dir.“ Lilith: „Josef! Schau.“ Lilith legte sich entspannt nach hinten auf den Rücken, winkelte ein Bein an, reckte einen Arm nach hinten und streckte dann ihren ganzen Körper, sodass ihr Rücken ein wenig ins Hohlkreuz ging, sie aber trotzdem entspannt blieb. Josef schaute. Sophia staunte mit großen Augen.
Lilith saß wieder wie zu Beginn auf ihrem Kissen und blickte zu Sophia: „Und? Hast du gesehen?“ Sophia: „Ja! Erstaunlich. Das ist ja eine schöne, reine, kraftvolle Energie. So stark habe ich das noch nicht gesehen.“ Lilith nickte: „Ich habe lange dafür geübt …“ Josef: „Das hast du nicht.“ Lilith: „Nicht geübt wie ihr Menschen. Das stimmt. Aber zu Beginn konnte ich noch nicht sehr viel. Erst über die Jahrtausende konnte ich immer mehr davon zusammensammeln ––– alles, was ihr Menschen um diese Kräfte herum verboten habt oder vergessen oder verändert, das konnte ich auflesen und zu meinem machen.“ Sophia: „Du bist, was wir Menschen verloren haben?“ Lilith: „Ja, aber nur auf meinem kleinen Gebiet. Jeder Dämon hat sein Gebiet, in dem er aufsammelt, was die Menschheit an Schätzen liegen lässt. So wird er stark.“ Sophia: „Und was ist … dein Gebiet?“ Lilith musterte Sophia lange und meinte dann: „Du bist noch sehr jung für so eine Frage.“ „Aber ich kann sie stellen!“, erwiderte Sophia und wunderte sich ein wenig, woher sie diese Antwort nahm.
Lilith: „Mein Gebiet ist die Verbindung von Weisheit und Fantasie. Später werden die Menschen das Verbinden einmal Kommunion nennen, Vereinigung auf einer höheren Ebene, aber bis dahin ist es noch eine lange Zeit.“ Sophia schaute still vor sich hin. Draußen grollte immer noch der Donner, und von Zeit zu Zeit sah man das Leuchten von Blitzen. Josef schaute sie staunend an und sagte auch nichts.
Sophia: „Aber warum verlieren wir Menschen eine so schöne Sache? Warum geben wir sie auf?“ Lilith: „Es ist sehr einfach, sich in dieser Kraft zu verlieren, sich selbst darin zu verlieren, ganz so wie Klophas sich vorhin verloren hat, als er Maria gesehen hat. Das war zu viel auf einmal für ihn. Und dann wollte er auf einmal etwas für sich haben. Und so ist er hängen geblieben und wusste nicht, was er in einer solchen Lage tun kann und ist eingefroren. So eine kraftvolle Energie, wie du sie gerade zwischen mir und Josef gesehen hast, kann Männer dazu bringen, die Frau, von der sie ausgeht, besitzen zu wollen, sogar manchmal ihr Gewalt anzutun, nur um der Energie näher zu kommen ––– nicht Josef, der ist da nicht anfällig ––– aber manche wollen sogar mich haben, und das ist ziemlich dumm. Ich bin eine Dämonin, kein Mensch kann mich haben oder unterdrücken oder zu etwas zwingen.“
Sophia hörte mit leicht offenem Mund zu. Sie staunte und dachte: „Ich rede mit einer Dämonin, die mir Dinge sagt, die ich vorher noch nie gehört habe und doch in meinem Denken auf kein Hindernis stoßen.“ Dann fühlte sie auch eine Kraft, die sie hemmte, die von ihrer Mutter auszugehen schien, die wollte, dass sie Lilith nicht näher kam, ihr nicht zuhörte, sie vor ihr in Acht nahm, und was hatte Josef, das er nicht anfällig war für die Verlockungen einer Dämonin, die eben dies so gut machte? Warum dachte sie jetzt plötzlich, dass es eine Verlockung war, das hatte sie vorher nicht so wahrgenommen. Immer mehr Gedanken schossen kreuz und quer durch ihren Kopf. Sie konnte kaum folgen. Sie schaute Josef an und dann Lilith. Beide schauten sie an und lächelten warm. Eine Dämonin, die warm lächelte … ihre Freundin war gestorben, weil sie sie getroffen hatte ––– Sophia wurde müde, so viele verschiedene Gedanken waren in ihrem Kopf und ihrem Herzen ––– sie konnte das nicht mehr ordnen. Sie sagte nur: „Ich werde so müde, ich muss mich ein wenig hinlegen.“ Und Augenblicke später lag sie mit ihrem Kopf auf dem Kissen und schlief. Josef stand auf, holte eine leichte Decke und deckte Sophia damit behutsam zu. Er schaute sie eine Weile an und setzte sich wieder auf sein Kissen.
Er schaute zu Lilith: „Warst du das?“ Lilith schüttelte ihren Kopf: „Ich wecke auf, ich lasse nicht einschlafen. Das machen andere. Sie ist einfach verwirrt, sie konnte nicht mehr alles zusammenbringen. Eine Windung zu viel und sie wollte nichts davon loslassen. Und dann schlaft ihr Menschen oft ein. Es reicht, wenn Zacharias eine Predigt hält. Kaum hat er angefangen, schläft schon die Hälfte der Zuhörer.“ Josef nickte und gähnte. „Ich werde auch müde. Warum ist das?“ Lilith lachte ihn an: „Du meinst, dass du alles verstehst, was ich gesagt habe.“ Josef: „Was verstehe ich nicht?“ Lilith: „Du verstehst nicht, warum du das Gefühl hast, mich haben zu wollen, obwohl ich eine Dämonin bin …“ Aber Josef hörte die Antwort schon nicht mehr. Er lag mit dem Kopf auf seinem Kissen und schlief so fest wie Sophia. Lilith war verschwunden.