Sophia und Josef (2)

Michael Schmidt

Kapitel 14

Es donnerte bis in den Tempelraum hinein. Ein Wind kam auf, wurde stärker, heulte um das Häuschen herum und rüttelte an den Holzschindeln auf dem Dach. Dann wieder Donnern und gelegentlich ein Blitz. Sophia und Josef schliefen tief und fest. Bei ihnen war keine Regung zu bemerken. Auf einmal gab es einen gewaltigen Donnerschlag, und fast gleichzeitig leuchtete das Zimmer hell auf. Sophia und Josef drehten sich ein wenig im Schlaf, aber wachten nicht auf.

An ihren Fußenden stand ein überlebensgroßer Engel mit einer kraftvollen Statur, breitbeinig und mit einem großen Schwert an seiner Seite. Er trug eine Rüstung aus glänzendem Silber mit einem goldenen Brustpanzer und goldenen Streifen und betrachtete zuerst in Ruhe den gesamten Raum und den Altar und dann die beiden Schlafenden. Er schaute sie mit einem warmen, wohlwollenden Blick an. Dann zog er sein Schwert, hielt es hoch, legte es vor sich auf den Boden, ging auf ein Knie und neigte seinen Kopf. Zwei Türen öffneten sich an beiden Seiten des Altars, wo vorher nur eine Wand war, und heraus kamen hintereinander Engel, in ruhigem Schritt, und bildeten von zwei Seiten aus einen Kreis um Josef und Sophia. Jeder trug eine rote brennende Kerze vor sich. Sie hatten alle einen leicht unterschiedlichen Rhythmus im Gang, trugen verschiedenste Kleider, keiner von ihnen war eindeutig männlich oder weiblich, aber auf eine seltsame Weise passte das alles zusammen, es war eine, wenn auch sehr bewegte, Harmonie. Als der Kreis geschlossen war, stellten alle Engel ihre Kerze vor sich auf den Boden und legten sich gegenseitig die Arme auf die Schultern. Sie gingen auch mit einem Knie auf den Boden und senkten die Köpfe.

Der große Engel stand auf, ging auf Josefs Seite, kniete nieder, legte ihm eine Hand auf die Brust und sprach: „Dein Wille geschehe, du bereitest dem Herrn einen Weg.“ Josef drehte sich im Schlaf zu Sophia, sodass er direkt neben ihr lag, eine Hand fasste sanft ihre Schulter. Er schlief immer noch tief und fest. Der Engel stand auf und ging auf die Seite von Sophia, kniete nieder und legte seine Stirn vor ihr auf den Boden. Nach einer Weile stand er wieder auf, ging zurück auf seinen Platz, kniete dort nieder und legte wieder die Stirn auf den Boden. Alle anderen Engel taten ihm nach.

Ein gewaltiger Lichtblitz in absoluter Stille erhellte den ganzen Raum. Durch das grelle Licht hindurch war kurz zu sehen, wie Josef ganz auf Sophia lag und sie umarmte.

Sophia schlug die Augen auf und blickte um sich. Es war hell draußen, die Sonne schien. Sie schaute neben sich und sah Josef von ihr abgewendet schlafen. Sie richtete sich auf und erschrak.

Vor ihr stand ein großer Engel und lachte sie an. Sophia: „Gabriel! ––– Du hast mich erschreckt. Was ist hier? Warum ist es schon hell? Haben wir … hier geschlafen?“ Gabriel: „Sophia! Von Gott, dem Herrn, Auserwählte, du Heilende, aus dem Kreis der Menschheit Aufgerufene und mit einer großen Aufgabe Betraute.“ Sophia erschrak und schaute zu Boden. Sie wunderte sich über diese Worte. So hatte Gabriel beim letzten Mal nicht zu ihr gesprochen. Er war wie ein Freund und hatte gesprochen wie ein Freund. Gabriel fuhr fort: „Fürchte dich nicht! Ich bringe dir eine Botschaft, von der Gemeinschaft der Himmel, von Gott, dem Herrn! Du wirst einen Sohn gebären, er wird groß werden und herrschen über die Welt, er wird der Sohn des Höchsten genannt werden. Du wirst ihn Jesus nennen. Er ist aus dem Haus Davids und er wird in allen Zeiträumen der Zukunft über den Stamm Jakobs herrschen. Er wird die Welt befreien von der Last der Lüge, der Unwahrheit und des Misstrauens. Er wird euch befreien von den Ketten, mit denen ihr Menschen euch selbst an eure Vergangenheit und eure Zukunft bindet, aus denen ihr euch nicht selbst befreien könnt.“

Sophia fasste sich mit beiden Händen an ihren Bauch und schaute ihn lange an. Dann blickte sie zu Gabriel: „Aber wie ist das möglich, ich war noch nicht mit einem Mann zusammen?“ Gabriel: „Der heilende Geist hat dich überschattet, der Höchste, Gott, der Herr hat seine Kraft über dir walten lassen. Schau, deine Tante Elisabeth, sie ist im sechsten Monat schwanger, in hohem Alter, und ihr ganzes Leben davor war sie unfruchtbar. Für Gott, den Herrn, ist nichts unmöglich. Er macht dich zur Mutter seines Sohnes.“

Gabriel war verschwunden. Sophia verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust und sank mit ihrem Kopf auf den Boden. Josef erwachte, schlug die Augen auf und richtete sich auf. Er sah Sophia zusammengekauert vor ihm liegen und wollte ihr die Hand auf den Rücken legen, aber er konnte nicht. Eine Kraft hinderte ihn.

Josef: „Sophia! Was ist mit dir?“ Sophia richtete sich auf, drehte sich um und schaute ihn an. Josef riss seine Augen auf, er glaubte nicht, was er sah. Er fasste sich mit beiden Händen an seine Brust: „Sophia! Wie … wie ist das möglich? ––– Du bist erwachsen! Du bist eine Frau geworden. Was ist passiert?“ Sophia sagte nichts, sie lächelte ihn sanft an, ihre Augen leuchteten und sie hielt ihren Bauch. Josef schaute auf ihren Bauch, sein Gesicht wurde bleich, seine Augen dunkel, sein ganzer Körper fing an zu zittern. Sophia: „Wir werden einen Sohn haben.“ Josef blieb stumm, er kämpfte gegen die Angst, die sich in seinem Körper ausbreitete wie eine schwarze Masse ––– alles in ihm wurde schwarz. Sophia schaute ihn entsetzt an. Sie rief: „Was ist mit dir? Warum … warum die Angst?“ Sie stand auf, öffnete die Tür des Tempelhäuschens und lief auf den Hof hinaus. Die Sonne traf sie mit voller Kraft, Frühlingssonne. Sie blieb stehen, schloss die Augen und breitete ihre Arme aus. Sie schien die Strahlen zu inhalieren, durch alle Poren ihres Körpers. Ihr Atem wurde ruhiger und plötzlich war sie in der Szene, die sich in der Nacht davor in ihrem Zimmer abgespielt hatte, während sie schlief. Sie sah Michael das Schwert niederlegen, sah den Kreis der Engel mit den Kerzen, den Lichtblitz in der Stille und Josef über ihr … Sie lachte und lachte mit ihren beiden Händen auf ihrem Bauch.

„SOPHIA!“, hörte sie eine Stimme neben ihr, „SOPHIA! Da bist du! Ich habe mir Sorgen gemacht.“ Sophia drehte sich zu ihrer Mutter, die Maria und Klophas die Auffahrt zum Hof hinauf davongeeilt war. „Mutter!“, sagte sie freudig. Anna schaute sie mit großen Augen an und griff ihre Hände: „Oh! Bei Gott, was ist passiert?“ Sie schaute sie an und konnte nicht glauben, was sie sah. Sophia: „Die Kraft des Höchsten hat mich überschattet. Ich werde einen Sohn gebären und er wird der Sohn des Höchsten genannt werden, der Sohn Gottes!“ Anna schüttelte den Kopf, kniete nieder und zog Sophia mit sich herunter: „Wir müssen beten. Wir werfen uns in die Arme unserer Engel und bitten sie, den Schatten von uns zu ziehen.“ Sophia löste vorsichtig ihre Hände von denen Annas und stand auf. Sie legte ihre Hand auf Annas Kopf und sagte: „Der Höchste hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Ich bin seine Dienerin. Ich tue, was er von mir verlangt.“

Anna schaute sie wild an. Wie Josef wurde sie bleich im Gesicht und schwarz in den Augen. Angst übermannte sie. Sie konnte nicht sprechen. Sophia trat einen Schritt zurück, schaute sich um, sah Josef aus dem Tempelhäuschen kommen. Er zitterte immer noch. Sie schaute auf ihre Mutter und lief dann um sie herum die Auffahrt zum Hof hinunter, an Maria und Klophas vorbei, und dann quer über die Felder zur anderen Seite des Tales. Sie lief und lief. Dorthin, wo der verlassene Hof mit dem Rosengarten stand.

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