
Sophia betrat den Rosengarten. Die Hecke um ihn herum war dicht überwuchert, die Rosenstöcke alle verdorrt. Für eine lange Zeit schien niemand hier gewesen zu sein. Sie nahm die Hände vor die Augen, fiel auf die Knie und fing an zu weinen. Ihr ganzer Körper zitterte immer wieder und die Tränen liefen ihre Wangen herunter. Sie beugte sich nach vorne. Ihr Körper wurde immer wieder durchgeschüttelt.
So lag sie da und weinte und weinte, bis am Ende die Tränen versiegten und sie ein leichtes, erhebendes Gefühl in sich spürte. Sie ließ sich erschöpft auf die Seite fallen, drehte sich dann auf den Rücken und schaute in den strahlend blauen Himmel über ihr. Keine Wolke war zu sehen. Plötzlich erschien ein großer, sanft lächelnder Engelskopf über ihr. Sie richtete sich auf und drehte sich zu ihm. Der Engel war einen Schritt zurückgegangen und stand jetzt etwa drei Meter entfernt von ihr. Sie schauten sich an.
Nach einer Weile fragte Sophia: „Wer bist du?“ Engel: „Mein Menschenname ist Rafael.“ Sophia lachte: „Rafael! Ich habe von dir gehört. Wie ist dein richtiger Name?“ Rafael: „Den würdest du gleich wieder vergessen.“ Sophia: „Ich weiß, aber mir hat noch nie ein Engel gesagt, dass sein Name ein Menschenname ist. Wie ist denn dein Kindername?“ Rafael: „Sonnenstrahl, manchmal Sonne oder Sonnie, je nach Kind.“ Sophia: „Wenn du Rafael bist, dann wachst du darüber, dass alle Menschen in Gemeinschaft leben und sich selbst finden können.“ Rafael nickte. Sophia: „Und jetzt bist du da, weil Anna und Josef Angst bekommen haben. Sie haben sich verloren.“ Rafael schüttelte leicht den Kopf und lächelte sanft.
Sophia dachte nach: „Du bist da, weil ich vor der Angst von Anna und Josef weggelaufen bin?“ Rafael legte seinen Kopf zur Seite. Nach einer kurzen Zeit schüttelte er ihn wieder ein wenig. Sophia: „Hmm.“ Rafael: „Ich komme nicht zu dir für die Dinge, die andere Menschen machen, sondern für die, die du selbst an dir machst.“ Sophia: „Jaa. Aber das Weglaufen …“ Rafael: „Warum bist du weggelaufen?“
Sophia schloss die Augen und legte sich beide Hände auf ihr Herz. Sie öffnete sie wieder und schaute Rafael an: „Ich bin erschrocken wegen ihrer Reaktion, ich bin erschrocken vor der schwarzen kalten Angst, die sie beide sonst nicht haben.“ Rafael nickte: „Und da hast du sie verloren.“ Sophia schloss die Augen wieder. „Ja“, sagte sie nach einer Weile. „Da habe ich sie verloren. Ich habe an ihnen gezweifelt.“
Rafael wehte mit seiner Hand über den Kopf von Sophia und zog damit eine gräulich-grüne Wolke heraus, die er mit einer weiteren Bewegung in der Luft zerstreute. Sophia lachte. Sie fühlte sich plötzlich leicht, wie schwebend. „Warum gibst du dem Zweifel in mir ein Bild, wenn er aus mir verschwindet?“ Rafael: „Weil es schön ist, und du es gerne siehst. Aber du hast den Zweifel noch in dir. Er ist nur gerade aus deinem Kopf verschwunden. Im Herzen und im Bauch ist er noch. Das wird eine Zeit lang brauchen.“ Sie nickte.
Sophia dachte nach und fragte nach einer Weile: „Rafael, warum haben sie so eine Angst bekommen?“ Rafael: „Deine Mutter, weil sie glaubt, dass du stirbst, weil du ein Kind bekommst ohne einen Mann zu haben. Das sind ihre eigenen alten Ängste. Sie wollte um jeden Preis verhindern, dass dir das passiert. Diese Ängste brechen da auf, da kann sie nichts machen, sie hat sie damals nicht verstanden und dann wurden sie unverstanden eingespeichert. Und Josef hat Angst bekommen, weil er glaubt, dass seine Familie dich und deinen Sohn umbringen wird, weil er ein Anwärter auf den davidischen Thron ist. Das sind auch seine eigenen alten Ängste.“
Sophia dachte wieder nach und fragte dann: „Wann kann ich zu ihnen zurück?“ Rafael: „Wenn sie das herausgefunden haben.“ Sophia: „Was mache ich denn jetzt?“ Rafael lachte: „Du bist ausgewählt. Das hat dir Gabriel gesagt. Das heißt auch, dass du geführt wirst. Du musst dir gar keine Gedanken machen, wie es weitergeht. Es kommt einfach dann, wenn du es wissen musst, und es kommt immer genau so, wie es gedacht ist.“
Sophia: „Aber muss ich das jetzt nicht wissen? Ich kann ja nicht in diesem Rosengarten bleiben.“ Rafael: „Wenn du einen Schritt aus dem Garten herausgemacht hast, wirst du es erfahren.“ Sophia drehte sich zum Eingang und wollte los. Rafael: „Warte noch! Geh noch einmal durch den Garten … und breite deine Arme aus.“ Sophia schaute ihn an: „Gut?!“
Sie breitete ihre Arme aus und in dem Augenblick kamen aus den verdorrten Rosenzweigen, die um sie herum standen, wunderschöne rote Rosenblüten hervor. Sie staunte und lachte und ging dann los, ganz langsam mit ausgebreiteten Armen den Hauptweg entlang bis zum Ende des Gartens. Überall, wo sie vorbeikam, erschienen Rosenblüten. Am Ende drehte sie sich um und schaute auf ein Meer aus roten Rosen. Tränen traten ihr in die Augen. Sie rannte los, auf Rafael zu und sprang ihm in die Arme. Er fing sie und setzte sie gleich wieder auf den Boden. Rafael: „Sophia! Das geht noch nicht in der Menschheit. Wir sind zum Anschauen und Reden da, nicht zum Umarmen.“ Sophia lachte: „Ich konnte nicht anders.“ Sie ging weiter Richtung Ausgang und als sie den ersten Schritt nach draußen machte, kam ihr der Gedanke: „Ich gehe zu Elisabeth. Sie weiß, was ich jetzt tun kann!“
Anna hatte Sophia vom Hof aus nachgesehen und gesehen, wie sie in Richtung des verlassenen Bauernhofs lief und dann im Rosengarten verschwunden war. Sie wollte ihr Zeit geben und sie wollte verstehen, wo sie selbst jetzt war. Sie spürte ihre Angst nicht, aber etwas war anders, etwas bedrückte sie, sie fühlte sich gelähmt und lustlos. Dieses Gefühl hatte sie schon eine lange Zeit nicht mehr gehabt. Sie setzte sich vor Josefs Haus auf eine Holzbank und betete. Maria setzte sich eine Weile zu ihr und als Anna eine Weile nicht reagierte, ging sie zu Klophas und beide entschieden, zu dem Bauernhof mit dem Rosengarten zu gehen, um nach Sophia zu schauen und sie zurückzuholen.
Nach einer Stunde kamen die beiden zurück und meinten zu Anna, dass sie Sophia nicht finden konnten. Sie war nicht mehr im Rosengarten. Anna schaute sie verwundert an und fragte ihren Engel darüber, aber der blieb stumm. Sie beschloss, sich keine Sorgen zu machen und ging in die Küche, um etwas zu essen zu machen. Klophas ging ins Tempelhäuschen, in das Josef verschwunden war, kam aber bald wieder zurück. Er zuckte mit den Schultern, als ihn Anna fragend ansah. „Will er etwas essen?“, fragte sie Klophas. Der schüttelte den Kopf.
Nach dem Essen meinte Anna zu den beiden, dass Sophia wahrscheinlich nach Hause gelaufen war, auf jeden Fall war sie nicht in Gefahr. Sie verabschiedete sich zusammen mit Maria von Klophas und machten sich auf den Heimweg. Zu Hause wartete vor ihrer Haustür Simeon. Er saß auf einem Holzklotz und begrüßte sie mit einem warmen Lächeln. „Simon!“, rief Maria überrascht und lief ihm entgegen. „Simon, du weißt sicher, wo Sophia ist.“ Simeon: „Ich glaube schon, dass ich das weiß.“ Anna schaute ihn überrascht an: „Sie ist … nicht hier?“ Simeon schüttelte den Kopf: „Sie ist bei Elisabeth, denke ich.“ Anna nickte erleichtert: „Jaah! So hätte ich auch denken können.“ Sie schloss die Augen.
Elisabeth war einfach der beste Ort, wo man mit einem Kind im Bauch hingehen konnte. „Dann werde ich mal etwas zu essen machen und dann brechen wir auf, nicht?“ Simeon schüttelte den Kopf: „Nein, das geht nicht. Sie kann jetzt nur Elisabeth um sich haben.“ Anna schaute ihn eindringlich an: „Warum?” Simeon: „Ich weiß nicht genau. Sie ist unglaublich hell gerade und soll das auch sein.“ Anna: „Und wie lange?“ Simeon: „So lange es gut geht.“ Anna: „Bist du sicher?“ Simeon: „Ja, da bin ich sicher.“ Anna traten Tränen in die Augen. Simeon stand auf und nahm sie in den Arm. Sie gingen zusammen ins Haus.