
Drei Monate später. Der Priester, der Lidia verhört und verurteilt hatte, klopfte laut an Annas Tür. Er wartete und schaute die drei Priestergehilfen an, die neben ihm standen. Er klopfte noch einmal. Dann rief er mit voller Stimme: „Anna, komm heraus! Ich habe von den Ältesten den Auftrag bekommen herauszufinden, was mit Sophia ist. Sie ist ein Kind unserer Stadt und keiner hat sie in den letzten drei Monaten gesehen. Wo ist sie? Zeige sie uns!“
Im Haus saß Sophia auf ihrem Bett, lehnte sich an die Wand und hielt sich ihren Bauch, der schon ein wenig dicker geworden war. Sie blickte im Zimmer herum. Die Vorhänge der Fenster waren zugezogen. Maria saß auf einem Stuhl neben dem Bett und Anna stand mit verschränkten Armen vor ihr. Sie sah Sophia an, schloss dann ihre Augen und schüttelte leicht den Kopf. Der Priester wurde lauter: „Ich komme mit dem Schmied und dann brechen wir deine Tür auf. Wir müssen Sophia sehen. Jetzt!“ Anna flüsterte: „Du bist in Lebensgefahr, Sophia, verstehst du das nicht? Der Priester meint es ernst. Und du sitzt hier ganz ruhig.“ Sophia: „Ich bin nicht in Gefahr. Ich muss nur das tun, was als nächstes dran ist. Und du hast Angst. Das hilft nicht.“
Anna: „Ich habe Angst um dich!“ Sophia: „Der Priester kann mir nichts tun.“ Anna schloss die Augen: „Sophia! Das kannst du nicht sagen. Lidia, erinnerst du dich nicht? ––– Warum bist du von Elisabeth weggegangen?“ Sophia: „Weil es dran war.“ Sie schaute Anna in die Augen. „Und wahrscheinlich auch, weil ich nicht in dem Haus bleiben kann, wenn Elisabeths Kind geboren wird, alle Leute vorbeikommen und ich auch einen Bauch habe. Aber ich weiß das nicht sicher. Aber das muss ich auch nicht wissen.“
Anna spürte eine Wut in ihr aufsteigen. Sie atmete und versuchte zu verstehen. Es war ihre Tochter, die so redete, verändert. Sogar ihre Stimme war anders als früher. Sie war nur bei ihrer Tante gewesen. Was war passiert? Sie erkannte den Ernst der Lage nicht … oder wollte sie nicht erkennen. Die Wut in ihr nahm ein wenig ab. Sie dachte zurück an die Zeit, als sie selbst mit Sophia schwanger war, wie ihr Leben plötzlich anders wurde, sie viel mehr Mut hatte. Aber sie war nie so ruhig geblieben, in so unmittelbarer Gefahr. Der Priester schrie von außen: „Ich gehe jetzt den Schmied holen und den Ziegenhirten.“ Er schlug noch einmal mit voller Kraft an die Tür, drehte sich um und ging dann die Straße herunter. Seine Gehilfen folgten ihm. Anna sah ihnen durch einen Spalt im Vorhang nach.
Sophia stand auf, ging in die Küche, goss etwas heißes Wasser in eine Schale und tat einige Kräuter dazu. Sie kam damit zurück in ihr Zimmer. Sie sah Anna an: „Wenn ich das Wasser ausgetrunken habe, geht es weiter, glaube ich.“ Maria drehte sich mit dem Kopf zu ihr: „Ich weiß genau, was du machst! Aber ist das nicht super gefährlich? Ein kleiner Zweifel und du weißt nicht mehr, was als nächstes kommt. Und du weißt auch nicht, dass du nicht mehr weißt.“
Anna schaute sie verwirrt an: „Was meinst du damit, Maria?“ Maria: „Das ist etwas zwischen uns. Das kann man so nicht so einfach verstehen. Sophia versteht mich schon.“ Anna blickte zu Sophia: „Verstehst du das?“ Sie nickte. Anna: „Und?“ Sophia: „Es stimmt, was Maria sagt.“
Anna setzte sich auf einen Stuhl: „Okay, du hast deinen Engel dabei. Er sagt dir, was du tun sollst.“ Sophia schüttelte den Kopf: „Mein Engel ist immer dabei. Aber den Weg muss ich alleine finden, das ist wichtig.“ Anna stand auf und ging zum Fenster. Sie sah einen Schatten auf die Haustür zukommen. Sie erstarrte. Maria: „Du hast Angst, Mutter! Sag jetzt bitte nichts. Sei einfach still.“
Sophia trank einen großen Schluck aus der Schale. Es klopfte laut. Viermal. Anna hielt den Atem an. Sophia stand auf, ging aus dem Zimmer und öffnete die Haustür. Sie blickte erstaunt auf Klophas, der sie anlächelte. Sophia lachte: „Klophas! Komm rein!“ Er ging an ihr vorbei ins Haus. In dem Augenblick sah Sophia aus dem Augenwinkel den Priester mit dem Schmied und dem Ziegenhirten die Straße heraufkommen. Sophia: „Klophas! Du musst uns helfen. Der Priester darf nicht gleich hier reinkommen. Wir brauchen ein wenig Zeit. Schnell! Lass dir etwas einfallen, du musst ihn ablenken.“ Klophas schaute sie eindringlich an und sagte dann nach einigen Augenblicken: „Okay, ich habe etwas.“ Er lief nach draußen, den Männern entgegen.
Sophia lief in ihr Zimmer: „Mutter, ihr wolltet doch diese Wache die Ziege schlachten. Das müsstet ihr jetzt machen. Jetzt gleich!“ Anna schaute sie erstaunt an und nickte. Sophia lief in den Hof zu den Tieren, kroch in den Hasenkäfig und legte sich unter das Heu in der hinteren Ecke. Maria kam hinter ihr her und deckte die Stelle mit mehr Heu zu. Die Hasen kamen heran und fingen an, daran zu kauen. Anna band sich eine Schürze um, holte die Ziege aus ihrem Stall und umarmte sie, dann gab sie sie Maria, die sie am ganzen Körper streichelte und dann auch umarmte.
Anna zog einen Stoffwickel aus einem Fach neben der Tür zum Haus. In ihm war ein scharfes Schlachtermesser eingewickelt. Sie nahm es, prüfte, ob es scharf genug war und kniete damit neben der Ziege nieder. Dann griff sie die Ziege bei den Hörnern und drückte sie sanft nach unten, sodass sie sich hinlegen musste. Beim Hinlegen schnitt sie der Ziege die Kehle auf und drückte mit der Hand sanft den Kopf auf den Boden. Sie flüsterte einige Worte in das Ohr der Ziege. Maria lag halb auf ihr und umarmte sie. So hielten sie eine Weile inne, während das Blut über den Boden in die Abflussrinne floss.
Klophas lief dem Priester entgegen und rief ihm aus einiger Entfernung zu: „Priester! Priester! Ich bin Klophas. Ich habe eine Frage!“ Der Priester kam auf ihn zu: „Ich weiß, wer du bist. Ich weiß auch, woher du deinen Namen hast. Aber wir haben jetzt keine Zeit.“ Klophas: „Bitte! Es geht nicht lange.“ Der Priester blieb stehen und schaute ihn ungeduldig an: „Ja?“ Klophas nahm Haltung an, legte sich eine Hand auf die Brust und sagte bestimmt: „Ich will heiraten.“ Er schaute dem Priester in die Augen. Priester: „Du bist 15 Jahre alt. Das hat noch Zeit.“ Klophas: „Nein, hat es nicht! Ich muss das jetzt tun.“ Priester: „Und wen willst du heiraten?“ Klophas: „Maria von Nazareth, Tochter von Anna von Nazareth.“ Der Priester lächelte: „Hast du das schon Anna gesagt? Ich glaube nicht.“ Klophas: „Wie sollte ich das tun, ohne dein Einverständnis? Ich muss zuerst einen Priester fragen, ob es geht.“ Priester: „Nicht jetzt.“ Er versuchte, Klophas beiseite zu schieben, aber der stemmte sich dagegen. Klophas: „Es ist dringend!“ Priester: „Dringend?“ Klophas schaute zu Boden: „Dringend!“ Der Priester schaute ihn interessiert an: „Was ist passiert?“ Klophas: „Ich bin mit Maria eine Wiese hinaufgelaufen.“ Der Priester: „Und dann?“ Klophas: „Ich habe sie an der Hand genommen und wir sind in einen Olivenhain gegangen.“ Priester: „Okay, und dann?“ Klophas: „Dann haben wir uns von dem Anstieg ausgeruht und sind nebeneinander gesessen.“ Der Priester schaute ihn grimmig an. Klophas schaute in die Luft. Priester: „Was ist dann passiert?“ Klophas: „Ich habe mich verliebt ––– wir sind dann wieder zurückgelaufen.“ Der Priester atmete laut aus und schloss die Augen. Er öffnete sie wieder: „WARUM IST DAS DRINGEND?“ Klophas: „Weil ich sie liebe! Ich kann nicht warten. Ich will sie nicht im Ungewissen lassen. Keine Minute.“ Priester: „Du warst mit ihr zusammen, oder? Ihr seid zusammen gelegen, nicht?“ Klophas schaute ihn erstaunt an und sagte nichts. Priester: „Das ist sehr ernst! Dann musst du sie heiraten.“ Klophas schaute ihn fragend an. Priester: „Es stimmt also? Du bist mit ihr zusammengelegen?“ Klophas blieb stumm. Priester: „Das ist sehr ernst! Du erinnerst dich an Lidia? Du willst nicht, dass Maria das gleiche Schicksal trifft.“ Klophas machte einen halben Schritt zurück und sagte entrüstet: „Ich bin nicht mit ihr gelegen. Gar nicht. Warum meinst du das? Das würde ich nie tun vor der Hochzeit.“ Der Priester schaute ihn verwirrt an. Klophas: „Das ist eine unfaire und gefährliche Anschuldigung, und eine falsche dazu! Wenn meine Eltern noch leben würden …“ Er setzte sich auf den Boden und umfasste seine Knie.
Der Schmied baute sich neben dem Priester auf: „Gehen wir jetzt, oder nicht? Ich habe noch Arbeit zu tun.“ Der Priester zeigte mit dem Finger auf Klophas: „Es tut mir Leid, wenn ich dich falsch beschuldigt habe. Ich werde ein Opfer dafür auf dem Altar bringen. Wenn Anna zustimmt, kannst du Maria heiraten, von mir aus, aber sie wird das nicht tun. Und jetzt gehen wir zu Anna, du kannst mitkommen und sie dann gleich fragen.“ Der Priester ging los in Richtung Haustür. Schmied, Ziegenhirte und Klophas hinterher. Er wollte gerade klopfen, da rief Klophas von hinten: „Es ist offen. Geh rein!“
Der Priester öffnete erstaunt die Tür und betrat das Haus. Drinnen standen alle Türen offen, es war niemand da. Er öffnete die Tür zum Hinterhof und da sah er Anna am Boden knien, mit einer blutüberströmten Schürze und blutigen Händen. Sie war dabei, den Kopf der Ziege abzutrennen. Maria kniete daneben und hielt immer noch den Rücken der Ziege. Er schaute verwirrt auf die beiden. Anna legte den Ziegenkopf auf die Seite und sprach dann zur Ziege gerichtet ein Gebet. Der Schmied stieß den Priester an: „Was ist jetzt?“ Der Priester laut: „Anna! Wo ist Sophia?“ Anna schaute ihn eindringlich an: „Siehst du nicht, dass wir gerade beim Schlachten sind? Du kannst gerne hierherkommen und einen Segen sprechen. Oder willst du das nicht tun als unser Priester hier in Nazareth?“ Der Priester kam und kniete widerwillig vor der Ziege nieder, hob eine Hand und sprach einige Worte. Dann verharrten alle stumm für einige Zeit bis das Blut vollständig ausgeflossen war. Der Priester und Anna standen auf.
Anna sagte zu Maria: „Fang schon mal an mit dem Teilen.“ Sie nahm das Messer vom Boden und reichte es ihr. Dann wandte sie sich zum Priester und sagte: „Sophia hat die letzten Monate bei ihrer Großtante verbracht, um ihr mit dem Kind zu helfen, das jetzt gerade geboren ist. Deswegen hat sie niemand gesehen.“ Der Priester schaute sie erstaunt an: „Ich weiß, dass deine Tante schwanger war. Wir haben gedacht, dass sie dort ist und das geprüft. Sie war nicht da.“ Anna sagte mit Wut: „Natürlich war sie da! Warst du selbst dort und hast das mit eigenen Augen gesehen?“ Priester: „Wir haben Nachricht bekommen, dass Sophia nicht in Kana ist.“ Anna: „Dann war das eine falsche Nachricht!“ Der Priester schaute sie skeptisch an. Anna schaute wütend zurück: „Wie oft hat mein erster Mann, Klophas, in seinem ganzen Leben gelogen?“ Priester: „Nie.“ Anna: „Und ich lüge auch nicht. UND JETZT GEH MIR AUS DEN AUGEN!“ Sie wischte sich das Blut an ihren Händen an ihrer Schürze ab. Der Priester schaute sie an. Sein Kopf lief dunkelrot an. Nach einigen Augenblicken drehte er sich um und ging weg. Der Schmied und der Ziegenhirte folgten ihm.
Klophas schaute Anna an und wartete bis er die Haustür mit einem lauten Krachen zufallen hörte. Dann lachte er. Anna fing auch an und steckte damit Maria an. Das Heu im Hasenkäfig raschelte und Sophia kam grinsend hervor. Sophia: „Danke, Klophas! Du machst deinem Namen alle Ehre.“ Klophas verbeugte sich elegant und Maria kicherte. Sophia: „Warum bist du eigentlich hier?“ Klophas: „Josef hat mich geschickt, dich zu uns zu holen. Er meint, alles wäre jetzt bereit, auch er.“ Sophia lachte: „Ja, das klingt gut. Da komme ich gerne mit. Wann?“ Klophas: „Heute Nacht, wenn der Priester schläft.“ Sophia nickte, Anna schüttelte den Kopf und Maria lächelte Klophas bewundernd an. Der wandte sich zu Anna. Er ging vor ihr auf die Knie. Sie schaute ihn erstaunt an. Klophas: „Anna! Witwe des großen Klophas, Mutter von Sophia und Maria, ich frage dich, mit Erlaubnis des Priesters dieser Stadt, um die Erlaubnis, deine Tochter Maria heiraten zu dürfen.“ Maria bekam große Augen, ihr Mund öffnete sich und dann lächelte sie wieder. Anna machte einen Schritt zurück: „Klophas! Meinst du das ernst? Klophas: „Ja!“ Anna: „Du bist 15 Jahre alt!“ Klophas: „15 Jahre 7 Monate und 9 Tage. Das sind fast …“ Anna: „Du bist 15 Jahre alt! Mit Heiraten macht man keinen Spaß.“ Klophas Augen verdunkelten sich, er schaute sie eindringlich an: „Ich bin Klophas, ich mache mit so etwas keine Späße. Wie viele Späße hat dein erster Mann mit so etwas in seinem Leben gemacht?“ Anna atmete aus. Klophas: „Ich trage seinen Namen mit Würde!“ Anna: „Du bist 15 Jahre alt. Maria ist 12! Du musst warten, bis sie 16 ist. Dann kannst du noch einmal kommen und fragen.“ Klophas: „Gut! Das werde ich tun.“ Er warf Maria einen strahlenden Blick zu. Eine Träne drückte aus dem Auge von Maria. Sie lächelte gerührt zurück.
