
Elisabeths Hebamme war die Nachbarin. Sie tastete Elisabeths Bauch ab und sagte dann ruhig und mit einem unscheinbaren Lächeln: „Er kommt!“ Elisabeth hatte keine Schmerzen, sie lächelte zurück und sagte leise: „Ich bin bereit.“ Im Zimmer brannten Kerzen, die unter Tonschälchen standen und verschiedene Öle in diesen verbrannten. Vor dem Fenster hing ein helles Tuch, das die Sonne dämpfte aber doch genug hineinließ. Es war der Anfang des Sommers, das Wetter war die letzten Wochen über warm und hell gewesen. Und auch jetzt, genau zur Mittagstunde schien die Sonne ohne eine Wolke am Himmel. Die Hebamme nahm den Kleinen entgegen, hob ihn hoch und legte ihn dann auf ihren Arm. Sie schaute ihn an und er tat einen kurzen Schrei. Dann öffnete er die Augen ein Stück weit. „Ein Junge“, sagte sie zu Elisabeth und legte ihn ihr auf die Brust. Elisabath berührte ihn mit ihren Händen und er schien sie für einen Moment anzuschauen, dann schlief er ein. Elisabeth atmete ruhig und hob und senkte ihn damit auf ihrer Brust. Sie lachte die Hebamme an und meinte: „Er soll Johannes heißen!“ Hebamme: „Wir werden den Vater gleich fragen, was er meint. Es gibt niemanden in deiner ganzen Familie, der so heißt. Wie kommst du auf den Namen.“ Sie rief ihren Neffen, der für nötige Besorgungen in den letzten Tagen im unteren Stockwerk des Hauses verbracht hatte. Die Hebamme wollte die ganze Zeit über bei Elisabeth sein. Er kam die Treppe hoch und sie sagte zu ihm: „Lauf zu Zacharias, sag ihm, dass sein Sohn geboren ist, und frage ihn wie er heißen soll.“ Der Neffe nickte und ging los. Er fand Zacharias im Tempel vor dem Altar betend. Er wartete bis er fertig war. Als er aufstand und sich umdrehte schaute ihn der Neffe an: „Dein Sohn ist eben geboren und meine Tante fragt, wie du ihn nennen willst.“ Zacharias musste nicht überlegen. er nahm ein Stück Papyrus und schrieb darauf: „Johannes.“ Er gab dem Neffen das Papier. In dem Augenblick fasst er sich an den Hals, schaute den Neffen überrascht an und räusperte sich. Er schaute sich um und als alle im Raum auf ihn schauten, sagte er: „Ab jetzt kann ich euch wieder antworten.“ Alle waren verblüfft und kamen zu ihm, sprachen mit ihm einige Worte. Der Neffe lief mit dem Papyrus zurück und als es die Hebamme las, war sie sehr erstaunt: „Er meint auch Johannes.“ Sie zeigte Elisabeth das Papier. Elisabeth lächelte, Johannes hatte ihr vor ein paar Tagen selbst gesagt, wie er heißen würde. Sie schaute ihn an und sagte: „Du weißt genau, wie diese Dinge gehen, nicht.“ In dem Augenblick öffnete er seine Augen ein wenig und machte eine saugende Bewegung mit seinem Mund. Sie nahm ihn an die Brust und er trank.
In den darauffolgenden Tagen kamen viele Gäste ins Haus, um Johannes und die Mutter zu sehen und ein Geschenk zu bringen. Manchmal bildete sich eine kleine Schlange vor dem Zimmer im oberen Stockwerk. Auch der Priester aus Nazareth war unter den Gästen. Er brachte eine Ente als Geschenk, die Elisabeth dankbar entgegen nahm. Dann wandte er sich zu Johannes, der seine Augen weiter öffnete als bei anderen und ihn lange und intensiv anschaute. Der Priester drehte sich zu Elisabeth: „Elisabeth, könnte ich vielleicht auch kurz mit Sophia sprechen. Sie ist ja ein Kind Nazareths und ich habe gehört, dass sie hier ist und dir bei der Geburt hilft.“ Elisabeth antwortete ruhig: „Nein, Sophia ist nicht mehr hier.“ Priester: „Aber ich habe gehört, dass sie die letzten Monate hier war.“ Elisabeth: „Das stimmt, aber jetzt ist sie nicht mehr hier.“ Priester: „Und wo ist sie?“ Elisabeth: „Ich weiß es nicht. Aber frag Zacharias.“ Der Priester verabschiedete sich und ging die Treppe hinunter. Im Garten traf er Zacharias.
Priester: „Werter Priester-Oberer.“ Zacharias lächelte ihn warm an: „Was begehrst du?“ Priester: „Euren Rat. Ich suche ein Kind von Nazareth, Sophia, deine Nichte.“ Zacharias: „Die Tochter von Anna. Ich habe nicht gehört, dass sie fehlt. Hast du ihre Mutter gesprochen?“ Priester: „Ja, sie meinte, sie wäre bei euch, seit drei Monaten.“ Zacharias: „Sie war hier. Sie ist aber vor einigen Tagen gegangen. Sie ist sehr selbständig, du kennst sie ja.“ Priester: „Sie ist nicht bei ihrer Mutter.“ Zacharias: „Dann weiß ich nicht.“ Er legte sich die Hand auf seine Brust und schloss die Augen. Nach einer Weile sagte er: „Es geht ihr gut, du musst dich nicht sorgen.“ Der Priester wollte etwas sagen, aber Zacharias legte ihm eine Hand auf die Schulter: „Mein Sohn, manchmal muss man dem Leben vertrauen.“ Er schaute ihn eindringlich an. Der Priester nickte, bedankte sich und verließ den Garten. Vor dem Haus blieb er stehen. Er war verwirrt. Eine dunkle Wolke vernebelte sein Bewusstsein. Er dachte intensiv nach. Nach einer Weile sagte er laut zu sich: „Klophas … Josef!“
Auf seinem Rückweg machte er einen Abstecher in das Tal außerhalb von Nazareth, wo Josef seinen Hof hatte. Er nahm aber nicht den Hauptweg, sondern einen Pfad durch den Olivenhain, den er von seiner Kindheit noch kannte. Als er den Hof sehen konnte, stellte er sich hinter einen Baum und beobachtete den Platz vor der Werkstatt und dem Haus. Er konnte Klophas erkennen, wie er an seiner Werkbank arbeitete. Er schaute ihm eine Weile lang zu, Plötzlich sah er wie Klophas aufgeregt auf das Haus zu lief. Er konnte nicht richtig erkennen, was dort geschah, also lief er ein paar Bäume weiter nach links und da konnte er kurz ein Mädchen sehen, wohl im Alter von Sophia. Oder war das Sophia? Er war sich nicht sicher, aber er sah wie Klophas sie in das Tempelhäuschen drängte und sie darin verschwand. Sie musste es sein. Es gab keine andere Möglichkeit. Er setzte sich auf den Boden und fasste sich an sein Herz, das laut zu pochen anfing. „Sie ist es! Sie ist bei Joseph. Sie wird versteckt“, dachte er. „Oh, mein Gott“, dachte er, „zwei Fälle in seiner Stadt in so kurzer Zeit. Das konnte doch nicht wahr sein.“ Er hatte gehofft, dass es sich doch aufklären würde und er nicht noch einmal durch das Ganze hindurch musste. In einer Stadt, wo Klophas, der Ältere, über so viele Jahre, diese verzeihende, alles zulassende, vertrauende Denkart gepflegt hatte, waren die Menschen so schwer zu bewegen, die nötige Konsequenz und Härte zu zeigen, um dem Schlechten nicht den Raum zu lassen, sich auszubreiten. Und das war so gefährlich. Er hatte geglaubt, dass schon während Klophas am Leben war, sich zeigen würde, dass das Schlechte diesen Raum übernimmt, den man ihm lässt, wenn man zu nachlässig ist und Menschen verleitet, gegen die heiligen Gebote zu verstoßen. Die Juden sind das auserwählte Volk. Das muss jeder Jude verstehen. Der Messias wird in dieses Volk hinein geboren werden, von einer jüdischen Frau. Er wird die Menschheit retten und Israel an die Spitze aller Völker setzen, als sein auserwähltes Volk. Und wir müssen dafür nur sicherstellen, dass die Frau, die ihn gebären wird, rein sein würde. Deswegen gab es diese Gesetze, die manchmal so grausame Folgen hatten, grausam, aber gerecht. Deswegen hatte er darauf drängen müssen, dass Lidia gesteinigt wurde. Er hatte danach über Wochen nicht schlafen können, wegen der Bilder, die nicht aus seinem Kopf gingen, und der Dramatik, wegen des Schreis von Sophia … Sophia … und jetzt Sophia. Er schloss die Augen. „Ich halte das nicht aus. Ich will da nicht noch einmal durch“, sagte er zu sich selbst. Aber dann ballte er eine Faust. „Ich muss. Es ist meine Aufgabe als Priester. Gott hat mich dazu ausgewählt. Ich kann nicht selbst entscheiden, wann ich die Gesetze befolge und wann nicht.“ Er blieb noch sitzen bis es anfing dunkel zu werden und machte sich dann auf den Rückweg nach Nazareth.