Die Schafhirten

Michael Schmidt

Kapitel 2

Der alte Schafhirte erhob sich mühsam von der Bank vor seinem Haus. Er fasste sich an den Bauch und verzog das Gesicht. „Verrübelt nochmal!“, schnauzte er und rief laut. „Wo sind meine Jungens.“ Er stöhnte. Nahor, sein ältester Sohn, legte behutsam die Hand auf seinen Rücken. „Wir sind alle schon da ––– nimm dir deine Zeit ––– mach so wie du kannst, es ist ein weiter Weg hinunter bis zum Wirt ins Dorf.“ Gallum, der jüngste und bei weitem kräftigste, sprang mit dem Rücken vor ihn hin und ging in die Hocke. „Spring auf, Vater! Halt dich an mir fest! Greif gut. Ich trage dich den ganzen Weg zum Wirt runter.“ Amon, der mittlere, hagere, wog vielleicht halb so viel wie Gallum und humpelte immer ein wenig, weil er am rechten Fuß einen Schuh anhatte und am linken keinen. Es war eine römische Sandale, die er auf dem Weg nach Jerusalem gefunden hatte. Es war sein erster Schuh, seine Brüder hatten keine. Er streckte seinem Vater eine Hand entgegen: „Komm! Auf mit dir. Und beim Wirt kann ich für dich sprechen, wenn du willst. Ich werde ihm schon sagen, dass er uns nehmen soll!“ Der Vater schlang seine Arme um Gallums Hals und grummelte: „Nix wirst du tun. Ich rede. Du bist still, bis ich sage, dass du redest.“ Amon nickte und wiederholte: „Ich bin still, bis du sagst, dass ich rede.“ Gallum griff die Beine seines Vaters, stand mit ihm auf und die vier machten sich auf den Weg hinunter ins Dorf Bethlehem.

Der dicke Wirt stand breitbeinig vor seinem Haus und schaute grimmig mit verschränkten Armen auf die Gruppe, die den Hügel herunter auf sein Haus zukam. Vor ihm ließ Gallum seinen Vater absteigen und der ging sofort auf den Wirt zu: „Levi.“ Er streckte seine Hand aus. Der Wirt gab ihm seine. „Levi! Wir kennen uns, seit wir kleine Kinder waren. Lange bevor du die Schafherde hattest. Ich bin krank, sehr krank. Der Rabbi sagt, dass ich in einem Monat sterben werde.“ Der Wirt quittierte das mit einem kaum hörbaren „Mh mh“. Er schaute den Vater an: „Was willst du?“

„Hier, sieh meine Kinder. Sie sind jung und stark und schlau und umsichtig. Ich kann nicht mehr für sie sorgen, aber sie haben mir mit deiner Herde geholfen, seit sie klein waren, und ich habe ihnen alles beigebracht, was ich weiß.“ Amon: „Und wir haben die Wölfe verjagt. Die sind wild dieses Jahr.“ Der Vater und der Wirt schauten ihn beide böse an. Vater: „Sei still!“ Und zum Wirt gerichtet: „Ich will, dass du sie für mich übernimmst. Sie sollen meinen Platz bekommen!“ „Wie???“, brauste der Wirt auf, „alle drei??? Sie sind so wenig, dass du drei davon brauchst, um dich zu ersetzen.“ Der Vater erschrak und schüttelte den Kopf. „Nein, nein …… ja. Sie machen das schon eine Weile. Sie brauchen ja nicht mehr Geld, nur so viel, dass es auch für meine Frau und die zwei Mädchen reicht.“

Der Wirt schüttelte den Kopf. „NEIN! Ich habe deinen Platz schon an meinen Schwager versprochen. Drei sind genügend Schäfer. Deine Kinder müssen sich eine andere Herde suchen.“ Die drei schauten erstaunt auf ihren Vater. „Er will uns nicht?“, fragte Amon. „Er braucht uns“, meinte Nahor, „das schaffen die beiden anderen nicht. Die Herde ist zu groß.“ „Und sein Schwager …… der kann das sowieso nicht.“ Gallum machte einen Schritt nach vorne, schaute drohend zu Levi und rief: „Du willst uns nicht?“ Der schaute grimmig zurück. Gallum sprang auf ihn zu und hob seine Faust. Der Wirt hielt ihm seine entgegen. Sie schauten sich direkt ins Gesicht, ihre Nasen schienen sich fast zu berühren. Sie standen da, alle hielten den Atem an.

„WÖLFEEE.“ schrie jemand von oben den Weg herunter. „WÖLFEEE! Schnell! NAAAHHOOOR ––– AAAMMONNN ––– GAAALLLUUUMMM –––.“ Er kam keuchend am Haus des Wirts an. „Gut …… gut, dass ich euch gleich finde! Kommt ihr schnell, die Wölfe sind wieder da, viele, viele, viele –– fünf oder sechs!“ Der Wirt packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich hin. Er schrie ihn an. „Macht das selbst! Ihr seid Schäfer! Ihr werdet doch wohl am hellen Tag mit ein paar Wölfen fertig werden?“ Der Schäfer schaute ihn hilflos an: „Ohne die drei?“ Er schüttelte wild den Kopf. Der Wirt packte fester zu und schrie: „WAAASSS?“ Der Schäfer wurde bleich und schüttelte weiter mit seinem Kopf. Der Wirt stieß ihn von sich, sodass er im Staub landete. Von dort rappelte er sich auf und rannte los. Die drei rannten mit ihm davon.

Amon stoppte nach wenigen Metern und rief „HAAALLLTTT!!!“ Er drehte sich um und rief dem Wirt zu: „Stellst du uns ein?“ Der Wirt fluchte laut und machte ein Handzeichen, das wohl bedeuten sollte, dass er einverstanden ist. „Alle drei?“ rief Amon. Der Wirt wiederholte das Handzeichen. Dann rannten sie davon.

Der Vater setzte sich auf den Boden in den Sand und atmete schwer. Der Wirt kam zu ihm, schlug ihm auf die Schulter und sagte: „Komm mit rein, wir trinken einen Wein, bis deine Jungs zurückkommen. Sie scheinen ja wirklich etwas zu können.“

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