
Sophia saß in einem Schaffell und einer Decke eingehüllt auf der Bank vor dem Tempelhäuschen. Ihr Bauch zeichnete sich darunter deutlich ab. Sie hielt ihn mit beiden Händen, schaute ihn an und lachte laut. Josef kam, setzte sich neben sie, legte eine Hand auf ihren Bauch und lächelte sie an. Sie lächelte mit einem unwirklich warmen und zarten Lächeln zurück. Josef durchschauerte es jedes Mal, wenn sie das tat. Hinter ihr stand ein überlebensgroßer Engel mit kraftvoller Statur, einer fantasievollen militärischen Rüstung und einem kunstvollen, mächtigen Schwert an seiner Seite. Sophia schaute Josef an: „Siehst du ihn jetzt?“ Josef schüttelte seinen Kopf: „Nein, aber ich glaube dir, ich spüre seine Kraft, er ist wie Michael, denke ich, genauso wie du sagst.“ Sophia: „Was soll mir passieren, solange er da ist? Und ich habe ja auch noch meinen Schutzengel.“
Josef: „Wir müssen vorsichtig sein. Der Priester war wieder in Jerusalem, habe ich gehört. Er hat es geschafft, von den Vorwürfen freizukommen. Das bedeutet nichts Gutes.“ Sophia: „Er kann uns nichts tun. Ich habe es dir gesagt.“ Sie lächelte wieder. „Und ich kann jetzt Engel sehen, wie Maria. Seit dieser Nacht im März …“ Josef schauerte: „Erinnere mich nicht daran. Nach dieser Nacht habe ich dich abgewiesen.“ Sophia: „Und dann hast du mich zu dir geholt.“ Sie küsste ihn auf die Wange.
„Josef!“, rief Klophas von der Schreinerei herüber. „Joseph, es kommt jemand!“ Josef sprang auf: „Sophia, geh ins Tempelhäuschen. Um sicher zu gehen.“ Er lief dem Aufweg zum Hof entgegen und erkannte einen älteren Mann in einem Priestergewand, der mit ruhigen Schritten den Weg zum Hof hochkam. Er kniff die Augen zusammen: „Simeon?“, dachte er. Und tatsächlich, als er nahe genug war und seine Kapuze abnahm, erkannte ihn Josef. Er lief ihm entgegen und sie fielen sich in die Arme. Nach einem langen gegenseitigen Anschauen sagte Josef: „Willkommen! Mein Bruder.“ Simeon: „Danke dir. Ich hoffe, hier ist alles gut.“ Josef: „Ja, hier ist alles sehr gut. Sophia ist wie immer bei bester Laune. Sie kann nichts erschüttern.“ Simeon: „Das wird noch kommen …“ Josef: „Ich kann mir das nicht vorstellen.“ Simeon: „Es fängt schon an. Es gibt Neuigkeiten aus Jerusalem. Aber lass uns hineingehen. Ich muss das allen erzählen.“
Im Tempelhäuschen saßen alle vier auf dem Boden auf Kissen, die Sophia in den letzten Wochen bestickt hatte. Alle schauten Simeon an. Der machte ein ernstes Gesicht. Simeon: „Ganz Jerusalem redet schon davon. Und bald wird ein Ausrufer hier nach Nazareth kommen und es verkünden. Rom braucht Geld für Kriege, und für Soldaten. Und deswegen hat sich der Kaiser einfallen lassen, alle Bewohner der von Rom besetzten Gebiete zu zählen. Zur Prüfung gleichen sie das dann mit alten Familienlisten ab. Deswegen, und das ist das Schwierige dabei, muss jeder dorthin, wo seine Familie ihren Stamm hat, um sich eintragen zu lassen und die Steuern zu bezahlen. Und da, wo es Abweichungen gibt, da schicken sie Nachforscher.“
Josef: „Das ist kein Problem. Ich kann tot sein. Meine Familie weiß das nicht. Ich fehle auf der Liste und sie können nicht sagen, wo ich bin.“ Simeon: „Die Römer wissen, wo du bist. Sie verfolgen alle möglichen Thronfolger.“ Josef: „Ja, und dann schauen sie auf den Kreis von Menschen um mich herum, wie vielen ich gebieten kann, und dann finden sie Sophia und Klophas. Das ist für sie nicht interessant. Ich bin für sie keine Gefahr.“
Sophia schaute ihn an: „Hey! Du kannst mir nicht gebieten. Wir sind nicht verheiratet.“ Klophas: „Mir kannst du gebieten. Ich gehorche dir gerne. Das lohnt sich oft.“ Er lachte. Josef strich mit der Hand über Klophas’ Kopf.
Simeon: „Aber Römer befolgen Gesetze und Befehle ihres Kaisers. Das machen sie gerne. Und wenn er sagt, dass sich alle zählen lassen und ihr Geld bezahlen sollen, dann versuchen die Römer in Jerusalem möglichst viele und viel zusammenzubekommen.“ Josef schloss die Augen und schaute zu Boden. Sophia: „Das wird kompliziert.“ Klophas: „Ich passe auf Sophia auf, wenn Josef in Bethlehem ist.“ Simeon: „Du hast keine Familie, es gibt kein Familienoberhaupt. Du kannst nicht alleine hier bleiben. Der Priester würde das sofort ausnutzen. Er ist schlau. Und er versucht alles, euch zu erwischen.“ Josef: „Ich bleibe hier. Wir haben hier starke Engel, die uns helfen. Es ist ein Risiko, aber das ganze Leben ist ein Risiko.“ Sophia: „Der Engel nickt.“
Klophas: „Wie heißt er eigentlich?“ Sophia: „Das hat er mir noch nicht gesagt. Er hat noch nichts gesprochen.“ Klophas schaute sie verwundert an: „Und wo ist er jetzt?“ Sophia: „Hier. Neben mir.“ Sie tippte mit einer Hand auf den Boden. Klophas reichte mit seiner Hand dorthin und versuchte etwas zu spüren. Sophia: „Er lächelt dich an.“ Klophas versuchte zurückzulächeln, wusste aber nicht richtig wohin. Josef stand auf und ging eine Weile umher. Dann drehte er sich zu den anderen und sagte bestimmt: „Wir bleiben hier!“