Elisabeth und Zacharias

Michael Schmidt

Kapitel 3

Zacharias sah in den Bronzespiegel in seinem Schlafraum und betrachtete das fein gewebte Untergewand, das immer der oberste Priester seiner Abteilung bekam. Er trug es an diesem Tag zum ersten Mal. Es war in einem leicht bräunlichen Weiß gehalten und hatte viele Stickereien mit Mustern und religiösen Symbolen. Auf Brusthöhe zeigte eine Stickerei die biblische Szene, in der Eva im Paradies Adam eine Frucht zeigte.

„Das passt doch! Das passt doch gut zu dir, oder nicht?“ sagte seine Frau Elisabeth, die hinter ihm stand und auch in den Spiegel schaute. Zacharias schmunzelte und nickte. „Du wirst darin irgendwann in Jerusalem im großen Tempel stehen und das Opfer bereiten ––– und die Opferrede vor der riesigen Menschenmenge halten.“ „Ja, in sechs Jahren. Da sind wir an der Reihe, unsere Abteilung. Aber ich werde dann noch etwas darüber tragen.“ „Natürlich, das Hohepriestergewand, das dort im inneren Tempel aufbewahrt wird. Soll ich dir dein Gewand für hier holen?“ „Ja. Bitte!“

Ein entfernter Schrei ließ ihn zum Fenster schauen, ein leichter Luftzug wehte ins Zimmer. „Ich muss mich beeilen“, dachte er. Auf einem gegenüberliegenden Hügel des Dorfs hob Tomas einen Stein auf und warf ihn mit aller Kraft einem davon rennenden wilden Hund hinterher. Sein Bruder kniete über einem Lamm, das stark blutete. „Es wird sterben, Tomas! Renne zum Priester!“ „Ich renne zu Zach.“ „Sag nicht mehr Zach! Du kannst nicht mehr Zach sagen.“ Tomas griff eine Handvoll Erde und stopfte sie in ein kleines Säckchen. Dann rannte er los, über die kleine Gartenmauer, auf den Weg hinunter zum Dorfplatz, er kürzte über einen Vorgarten ab und nahm den Weg hinauf zu Zacharias Haus.

Elisabeth hielt Zacharias das schwere Priestergewand hin, und er streckte ihr seine Arme entgegen. Es passte genau, auch die Länge war genau fĂĽr ihn angepasst worden. „Beeile dich, ich muss gleich hinaus“, meinte Zacharias, während Elisabeth die SchnĂĽre des Gewands am RĂĽcken zusammenband. Sie nickte. „Eines noch ––– gut, fertig! Lass dich anschauen …“ Aber Zacharias war schon in Richtung HaustĂĽr verschwunden.

Als er den Vorgarten betrat, erreichte Tomas das AuĂźentor. Er wollte gerade klopfen, da rief Zacharias von innen: „Komm rein, Tomas! Es ist offen.“ Tomas erschrak ein wenig, er hatte Zacharias nicht gesehen, fasste sich aber schnell und ging durch das Tor. Er griff nach der Hand, die Zacharias ihm entgegenhielt, ging auf die Knie und kĂĽsste den Priesterring. Zacharias half ihm auf und fragte: „Was brauchst du?“ „Das Lamm –– ein wilder Hund –– wir mĂĽssen schlachten. Es stirbt.“ „Ich kann jetzt nicht mitkommen. Aber wenn du mir ein wenig Erde von deinem Ort hast …“ Tomas hielt das Säckchen hoch und lächelte Zacharias an. Der nahm es, ging auf die Knie und fasste mit einer Hand hinein. Dann zog er das Säckchen an seine Brust, murmelte einige Worte und gab es Tomas zurĂĽck, der damit losrannte. Zacharias schaute ihm kopfschĂĽttelnd hinterher.

„Zach!“, sagte Elisabeth hinter ihm, „hier ist noch jemand, der dich braucht.“ Zacharias drehte sich um und sah einen jungen schmalen Mann von etwa 18 Jahren. Er hatte glänzende, aber etwas müde Augen. „Aaron! Was ist mit dir los?“ „Was meinst du denn, was mit ihm los ist?“, fuhr Elisabeth dazwischen und lächelte, „hast du in der letzten Zeit nichts an Maria bemerkt?“ „Ich habe sie nicht gesehen.“ Er schloss die Augen. „Sie trägt ein Kind unter ihrem Herzen, nicht?“ „Nicht mehr!“ Elisabeth schaute zu Aaron. Aaron sagte aufgeregt: „Wir haben einen Sohn. Vor zwei Stunden.“

Zacharias hob seinen Kopf zum Himmel, atmete langsam ein und sagte nach einer Weile: „Willkommen!“ Er schaute Aaron an: „Dein erstes Kind! Dein erster Sohn. Wann wollen wir ihn beschneiden?“ Aaron war ein wenig verwirrt wegen der Frage und meinte: „Übermorgen. In meiner Familie sind alle am dritten Tag beschnitten.“ „Gut! Dann übermorgen. Ihr habt alles, was ihr dafür braucht?“ Aaron nickte: „Ja.“ Er lächelte, schluckte, schaute Zacharias an und konnte sich nicht mehr zurückhalten. Er brach in ein lautes, freies Lachen aus, lachte und lachte. Zacharias lachte mit ihm und Elisabeth auch. Nach einer Weile umarmte Zacharias Aaron und der ging mit Freudentränen in den Augen aus dem Gartentor.

Zacharias schaute ihm hinterher. Er schĂĽttelte lächelnd den Kopf und drehte sich zu Elisabeth: „Es ist immer so schön, wenn die Freude sich ihre Bahn bricht …“ Aber Elisabeth stand nicht mehr. Sie hatte sich weggedreht und war in die Knie gesunken. Sie hielt sich mit beiden Händen ihre Brust. Tränen liefen ihr aus den Augen. Zacharias kniete vor ihr hin, er nahm ihre Hand: „Elisabeth! Hast du Schmerzen?“ Nach einer Weile sagte sie leise: „Ich habe mich so fĂĽr Aaron gefreut. Sein Lachen. Er hat einen inneren Sprung gemacht, zum Mann, zum Vater, und dann so frei vor dir gelacht. Es ist fĂĽr ihn das Größte, sein erster Sohn ––– und dann –––“, sie kniff die Augen zusammen, „und dann –– habe ich an meinen eigenen Sohn gedacht, unseren Sohn.“

Zacharias umarmte sie und legte seinen Kopf auf ihre Schulter. „Elisabeth, das war vor fast 40 Jahren …… und wir hatten nie ein Kind …… du hast nie ein Kind unter dem Herzen getragen.“ „Aber er war da! Ich habe mit ihm geredet. Ein Engel ist gekommen und hat mir gesagt, dass ich ihn bekommen werde. Engel können nicht lügen –– ich habe mit ihm geredet! Er sagte mir, dass er auf dem Weg zur Erde ist, ich bräuchte nur ein wenig Geduld.“ Sie weinte stärker. „Aber 40 Jahre ist eine so lange Zeit …“ Zacharias drückte sie an sich: „Elisabeth ––– du kannst keine Kinder bekommen. Wir können keine Kinder bekommen. Wir wissen das jetzt. Und das ist gut so, das ist so wie Gott das will.“ „Hast du das von einem Engel gehört, oder denkst du das einfach nur so?“ „Du bist weit über 50 Jahre alt. Frauen bekommen in dem Alter keine Kinder mehr.“

In dem Augenblick kam Maria von hinten angesprungen und umarmte beide. „Onkel! Tante!“, rief sie voller Freude. Sie stockte: „OHHHH! Tante, du weinst ja! Was hast du? Bist du hingefallen?“ Anna und Sophia kamen hinzu. Zacharias schaute sie an: „Das ist eine Überraschung! Willkommen!“ Er stand auf. Anna kam auf ihn zu und umarmte ihn. „Wir wollten alle den frisch gekürten Priester-Oberen sehen, aus dem kleinen Dorf Kana in Galiläa.“ Elisabeth wischte sich die Tränen aus den Augen, umarmte Maria und stand auch auf. Eine Zeit lang standen alle fünf zusammen auf dem Rasen vor dem Haus und hielten sich. Niemand sagte ein Wort. Bis Maria plötzlich davon sprang und rief: „Wo ist das Holzpferd von Josef?“ Sie verschwand im Haus. Sophia rannte hinter ihr her.

„Ich habe Simeon getroffen“, sagte Anna, „es geht ihm gut. Er ist wieder die drei Tage alleine von Jerusalem nach Nazareth gelaufen.“ „Wegen Sophia“, meinte Zacharias, –– „er sieht etwas Besonderes in dem Mädchen. „Hat er jetzt mehr darüber gesagt, was das ist, außer dass sie eine Auserwählte ist?“ „Nein, nicht sehr deutlich.“ „Nicht sehr deutlich?“, fragte Elisabeth und schaute sie eindringlich an. „Eigentlich nichts, er hat etwas darüber gesagt, was sie erleben wird, aber das ist bestimmt nicht das, warum er seit ihrer Geburt immer wieder zu Besuch kommt.“ „Möchtest du sagen, was es war?“, fragte Zacharias. Anna schaute zu Boden. „Er hat gesagt, dass sie das Gleiche erleben wird, was ich mit ihr erlebt habe.“

Zacharias und Elisabeth schauten sich erschrocken an. Elisabeth fasste Anna an die Schulter: „Das kann nicht sein.“ Anna nickte, sagte aber nichts. „Und er ist dabei ruhig geblieben?“ „Er hat mich beruhigt und gemeint, dass damit alles in Ordnung ist.“ Elisabeth fasste sich an die Brust: „Hat er das als Mann gesagt oder als Priester oder …“ Anna: „… als jemand, der sieht, was passieren wird.“ Elisabeth schĂĽttelte den Kopf: „Er ist ein Mensch. Er kann sich irren.“ Zacharias unterbrach sie: „Simeon irrt sich nicht in etwas, worin er sich sicher ist. Ganz sicher nicht.“ Er schaute Elisabeth ruhig an. „Ich muss jetzt zum Tempel, ich hoffe, ich sehe dich danach noch, Anna, ich will mehr davon erfahren.“ Er umarmte sie lange und ging zum Tor hinaus. Beide schauten ihm eine Zeit lang nach.

Anna drehte sich wieder zu Elisabeth: „Erinnerst du dich, wie ich damals hierher gekommen bin, mitten in der Nacht, mit Sophia in meinem Bauch, und ihr mich aufgenommen habt? –– Und Zacharias zuerst zögerte, weil Klophas ja schon über ein Jahr tot war?“ Elisabeth nickte. „Ja, und ich dachte vorher, dass wir einen Fluch in der Familie hätten: Ich war seit 30 Jahren kinderlos und du seit 20 … Und da kamst du, mit einem Kind. Ich war außer mir vor Freude.“ „Und ich konnte es gar nicht begreifen! Wie? Woher? Wie konnte ich ein Kind bekommen? Und Zacharias hat es auch nicht verstanden. Ich habe ihn darin ganz und gar verstanden. Und du hast mit ihm gestritten!“ „Ja, das eine Mal. Da habe ich mit ihm gestritten!“ „Und er ist hinausgerannt in den Tempel, voll Wut, und hat dort Simeon getroffen, gleich am Eingang, einfach so, ein fremder Priester aus Jerusalem, wie oft passiert das? Und der hat ihm seine Hände auf die Schultern gelegt und gesagt, dass mein Kind rein empfangen wäre und dass er alles als Wahrheit nehmen sollte, was ich sagen würde –– und das hat er gesagt, bevor Zacharias ihm überhaupt von mir erzählt hat.“ „Simeon hat mir gesagt, dass er ihn dann eine lange Zeit einfach nur angeschaut hat. Und dann ist er wieder gegangen, ohne ein Wort zu sagen.“ „Und er kam zurück zu uns und hat mich auf Knien um Verzeihung gebeten, und dann durfte ich bei euch wohnen.“

Sie lächelte und schloss die Augen. „Und er hat mir so bei der Geburt geholfen, alles so schön und feierlich vorbereitet, es war immer ein Feuer im Raum, und feiner Rauch.“ „Ja, er hat alles gemacht, was er konnte und wusste.“ „Und dann war sie auf einmal da, Sophia, und hat mein Leben verändert. Ohne Schmerzen geboren. Ein Zauberkind. Ich war so glücklich in dieser Zeit. Alles war leicht und hell.“ „Ja, wir alle waren glücklich! Sie war wie meine Tochter. Sie ist wie meine Tochter. Und wegen mir hätte das immer so bleiben können, aber Zacharias dachte darüber nach, was passieren würde, wenn ihr zusammen das Haus verlasst und gesehen werdet. Aber dann kam ja Joachim! Aus dem Nichts.“

Anna setzte sich auf den Boden und Elisabeth folgte ihr. Sie schloss die Augen und nach einer Weile rann ihr eine Träne das Auge hinab. Elisabeth lächelte: „Joachim. Er kam wie ein römischer Soldat, mit sicheren Schritten, sein Brustpanzer glänzte.“ „Er ist ein römischer Soldat, ein jüdischer römischer Soldat.“ „Und was war noch das Erste, was er zu dir gesagt hat?“ Anna nahm im Sitzen die Statur eines Soldaten an und sprach mit dunkler Stimme: „Anna von Nazareth! Wieso versteckst du dich vor mir?“ „Er hatte ein Jahr lang nach dir gesucht. Keiner in der Stadt wusste, wo du hingegangen warst.“ „Und dann hat er mich mitgenommen und das Haus in Nazareth gekauft und wir sind eingezogen. Zu dritt. Eine ganz normale Familie… Und bald waren wir dann zu viert.“ „Und keiner hat dir wegen Sophia Fragen gestellt. Nicht eine, die ganzen Jahre nicht.“ „Keine einzige. Ich war einfach wieder da. Er hatte mich mitgenommen, und dann wieder zurückgebracht.“ „Manchmal lösen sich komplizierte Knoten einfach auf.“ Sie umarmten sich.

Anna und die beiden Kinder blieben einige Tage und machten sich dann wieder auf den Rückweg. Elisabeth und Zacharias schauten den dreien beim Abschied lange nach. Dann gingen sie ins Haus. Zacharias wandte sich zu Elisabeth: „Wann war Joachim eigentlich das erste Mal in Nazareth?“ „Du meinst, als er verwundet war und Anna ihn gepflegt hat? –– Das war zwei Jahre bevor er hierher kam.“ Zacharias nickte. „Mhmh.“ „Warum fragst du?“ „Es stimmt nicht, dass sie vor seiner Rückkehr nie bei ihm im Zimmer geschlafen hat.“ „Und das hat sie auch nicht gesagt. Sie hat nur gesagt, dass sie nie mit ihm zusammen gewesen ist.“

Kurz vor Sonnenuntergang erreichten Anna und die Kinder ihr Haus in Nazareth. Anna fasste den TĂĽrbalken an und sprach einige Worte und dann gingen sie gemeinsam hinein.

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