Das tote Häschen

Michael Schmidt

Kapitel 4

Sechs Jahre später.

Es war ziemlich warm für einen Wintermorgen. Die Sonne ging gerade auf. Sophia öffnete die Tür des Hauses und kam mit einem Wasserkrug heraus. Sie lief zum Brunnen, füllte ihn und kam damit zurück. Dann lief sie durch das Haus zu den Tiergehegen. Zuerst füllte sie die Trinknäpfe der beiden Dachse, die gleich links neben der Tür zum Garten ihren Platz hatten. Dann kamen die Enten und Gänse dran, die Hühner auf der rechten Seite und ihr Schwein, das das größte Gehege hatte, weil es nur für einige Wochen hier war, um den Boden für Beete zu bereiten. Es hatte in den ersten Tagen schon ganze Arbeit geleistet und alles einmal umgegraben. Sophia lächelte und ging zum Hasenstall.

Die Häsin kam nicht wie gewohnt herangehoppelt, sondern blieb unter ihrem Dach liegen. „Komm! Frisches Wasser“, rief Sophia ihr zu, aber die Häsin rührte sich nicht, sondern schaute nur zufrieden herüber. Sophia füllte ihre Wasserschale und schob sie so weit sie konnte in Richtung der Häsin. Da sah sie einen winzigen Kopf unter der Vorderpfote hervorlugen. Sophia öffnete den Stall und kroch hinein. Sie streichelte die Häsin über den Kopf, schob ihr die Wasserschale nahe an ihr Maul und fuhr mit ihrer Hand vorsichtig unter den Bauch. Sie zog ein winziges Häschen hervor, dessen Augen noch verklebt waren und das mit der Nase danach zu suchen schien, was hier vor sich ging. Sophia hielt es in beiden Händen sanft an ihre Brust und sagte leise: „Willkommen.“ Das Häschen hatte keine Angst, auch nicht als Sophia es neben die Mutter zurücksetzte. Es orientierte sich ein wenig und kroch dann wieder unter den Bauch der Mutter ins Stroh, auf dem sie lag.

Sophia stand auf, drehte sich zum Haus und rief „Maria!! Komm! Schnell! Die neuen Häschen sind da. Einige Augenblicke später erschien Maria sehr verschlafen an der Tür zum Garten und tapste zum Hasenstall. Sie kroch hinein und holte sich ein Häschen heraus, hielt es vor sich und schaute es an. „Gut“, sagte sie bestimmt, „sie scheinen gesund zu sein.“ Sie gab es Sophia und holte das nächste. Das tat sie bis zum letzten, das sich beim Herausziehen schlapp anfühlte. Es hatte keine Körperspannung, regte sich nicht. Maria hielt es vor sich und schaute es an. „Mit dem hier stimmt etwas nicht.“ Sie drückte es vorsichtig an ihr Ohr. „Ohhhh. Ich glaube, es lebt nicht.“ Sophia nahm es auf und roch an ihm. „Aber es scheint noch nicht lange tot zu sein.“ Sie kauerte auf den Boden und hielt das Häschen innig an ihr Herz. Sie hielt den Atem an. Lange. Plötzlich atmete sie tief und langsam ein. Das Häschen zuckte unmerklich und hob leicht den Kopf. Sophia hielt es an ihr Ohr und lächelte. Sie hielt es Maria hin, die es auch an ihr Ohr nahm. Sie lachte. „Ja! Es lebt wieder!!“

„Anna! Anna!“, schrie eine Frau von der Straße vor dem Haus aus. So laut, dass es Sophia und Maria gut hören konnten. Es lag etwas sehr Beängstigendes in der Stimme. Sophia und Maria schauten sich an. Sie liefen los. Sophia voran. Die Mutter hatte schon die Tür geöffnet. Clara, die Mutter von Lidia stand draußen, mit hochrotem Kopf und aufgequollenen Augen. Lidia war zwei Jahre älter als Sophia, sie hatten früher viel miteinander gespielt, vor allem mit den Tieren im Hinterhof. Als Anna Clara erreichte, sank sie in die Knie und griff Annas Arm. „Anna! Bitte! Bitte! Lidia! Lidia. Lidia.“ Anna senkte ihren Kopf und Clara flüsterte ihr etwas ins Ohr. „UM GOTTES WILLEN.“ rief Anna. „NEIN! NEIN! Das kann nicht sein. Ich komme mit dir! Warte.“

Sie drehte sich um, um im Haus etwas zu holen. Sophia versperrte ihr den Weg: „Was ist los.“ Anna schaute sie an und wieder weg und wieder hin. „Das ist nicht für dich.“ Sophia: „Ich will mitkommen.“ forderte Sophia. Anna schob sie beiseite und sagte im Vorbeigehen: „Nein, das ist nicht für dich. Du bleibst hier.“ Sie kam mit einer Jacke und Schuhen zurück und zog Sophia ins Haus. „Du wartest hier. Ich bin bald zurück.“ Maria verkroch sich hinter ihrer Schwester. Anna zog die Tür zu und Sophia hörte sie auf der Straße zu Clara sagen: „Komm! Ich werde mit ihm reden. Das kann nicht sein. Das geht nicht. Da ist etwas ganz schief.“ Sophia griff die Türklinke, lehnte sich mit dem Kopf gegen die Tür und zählte rückwärts: „30, 29, 28, 27, 26 …“

Mehr gibt es noch nicht ... morgen dann.
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