Die Tempel-Rede

Michael Schmidt

Kapitel 5

Zacharias stand im festlichen Priestergewand hinter dem schweren Vorhang am Eingang zum Großen Tempel in Jerusalem. Er hörte die Menge draußen laut miteinander sprechen, beten, sich begrüßen, durcheinander rufen … Er schloss die Augen und atmete einige Male tief ein und aus. Dann blickte er nach vorne, nickte nach links, und ein Tempeldiener schob den Vorhang beiseite. Zacharias schritt hinaus. Die Menge wurde ruhiger. Einige Momente später war alles totenstill. Zacharias machte noch einige Schritte bis zur großen Treppe und schaute über die Menge. Dann breitete er seine Arme aus und schloss seine Augen. Nach fünf langen Minuten hob er beide Arme gegen den Himmel, machte ein Zeichen des Segens über der Menge und ging wieder zurück in den Tempel. Drinnen hörte er, dass die Menge immer noch still dastand. Er ging zum Raum am Ende des Tempels, dem Allerheiligsten, wo er das Räucheropfer bereiten würde. Die Tempeldiener hatten eine Auswahl der Dinge, die die Menschen mitgebracht hatten, auf einem Opfertisch angeordnet. In der großen Feuerschale brannte ein Feuer auf einer heißen Glut. Er drehte sich zum Tisch und wollte gerade das erste Opfer nehmen, einen Lammskopf, da spürte er in seinem Rücken eine helle Energie, die mehr und mehr den ganzen Raum einnahm. Er dachte: „Oh! Ein Engel!“ und drehte sich langsam um.

Er erschrak und ging in die Knie. Vor ihm stand ein drei Meter hoher Engel mit einem leuchtenden Gewand aus Gold und rotem Zobel. Er trug Smaragde um seinen Kragen und an den Ärmelenden. Sein Brustpanzer glänzte weit heller als das Feuer, das unmittelbar hinter ihm brannte. Zacharias kauerte am Boden und zitterte. Der Engel sagte mit dunkler, lauter, aber warmer Stimme: „Habe keine Angst, Zacharias! ––– Jehova schickt mich ––– zu dir ––– um dir zu sagen, dass Elisabeth bald ein Kind empfangen wird ––– und du sollst es Johannes nennen.“ Zacharias sagte, immer noch zusammengekauert, mit brüchiger Stimme: „Aber meine Frau ist zu alt, um ein Kind zu bekommen.“ „Für Jehova ist nichts unmöglich. Für dein Unvertrauen nehme ich dir deine Stimme, bis das Kind geboren ist.“ Zacharias schaute vorsichtig nach oben. Der Engel war verschwunden.

Er fasste sich an den Hals. Er versuchte ein Wort hervorzubringen, aber es ging nicht, sein Kehlkopf reagierte nicht. Er hatte keine Schmerzen, er fühlte sich nicht krank oder schwach, nichts drückte ihn, sein Kehlkopf reagierte einfach nicht. Er richtete sich auf. Ging wieder zum Opfertisch, nahm den Lammskopf, legte ihn auf ein Drahtgitter und brachte beides zum Feuer.

Als alle Opfergaben im Feuer waren und er den Rauch eine Weile beobachtet hatte, ging er wieder in Richtung des Vorhangs. Er nickte dem Tempeldiener zu, und der zog den Vorhang auf. Zacharias ging hindurch, auf die Menge zu. Jetzt hätte er seine Rede halten müssen, über das, was er im Rauch gesehen hatte, welche Gedanken ihm kamen, wie das kommende Jahr werden würde; so war es über Hunderte von Jahren gewesen. Er wusste von keinem Fall, wo ein Priester nach dem Räucheropfer hier oben gestanden und nichts gesagt hatte. Er hatte sich Wochen darauf vorbereitet, er wusste genau, was er gesehen hatte und sagen wollte, aber jetzt konnte er nicht. Er hob seine Arme über die Menge und zeigte dann mit seiner Hand auf seinen Hals und machte eine Geste, dass er nicht reden konnte. Tränen standen ihm in den Augen. Er senkte seinen Kopf. Nach einigen Augenblicken drehte er sich um und ging langsam zurück in den Tempel. Eine Woche später. Elisabeth wartete am Tor ihres Hauses auf ihn. Er kam, ließ sein Gepäckbündel fallen, und sie umarmten sich lange. Elisabeth fragte ihn nichts, sie hatte gehört, was geschehen war. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht im ganzen Land verbreitet. Sie gingen zusammen ins Haus. Er setzte sich an den Schreibtisch, nahm eine der Schriftrollen und begann zu lesen. Sie umarmte ihn von hinten und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Er strich sanft mit der Hand über ihren Kopf und begann zu weinen.

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