Sophia hielt immer noch ihren Kopf an die Tür und zählte rückwärts: „3 … 2 … 1!“ Sie öffnete die Tür vorsichtig. Ihr kleine Schwester kam von hinten und versuchte, sie festzuhalten: „Hey, Sophia, nein! Mutter hat gesagt, du sollst hier bleiben.“ Sophia drehte sich um und schaute ihre Schwester an: „Ich kann nicht! Ich muss sehen, was da ist. Sie hat so seltsam geschrien.“ „Du kannst nicht gehen! Mutter war ganz ernst.“ „Ich muss“, rief Sophia, riss sich los und lief hinaus auf die Straße. Ihre Mutter war nach links gegangen, sie folgte ihr. „In der Richtung ist Claras Haus. Dort sind sie hingegangen!“, dachte Sophia. Und richtig, als sie in den Weg zum Haus einbog, sah sie dort eine Menschenmenge. Sie stutzte. So viele Menschen, und die meisten kamen ihr fremd vor. „Wo kommen die Leute her?“, fragte sie sich, „warum so viele und was machen sie vor Claras Haus?“ Ihre Mutter stand mit Clara an der Haustür vor einem jungen Mann, der ihnen den Weg versperrte. Sophia drückte sich gegen eine Wand, damit ihre Mutter sie nicht sehen würde, wenn sie den Weg hinaufschaute. Ihre Mutter hielt dem Mann ihren Zeigefinger entgegen und sagte laut und energisch: „DU LÄSST MICH DA HINEIN!“ Sie ging mit ihrem Gesicht ganz nah an das Gesicht des Mannes, der sichtlich kleiner wurde. Dann schob sie ihn beiseite und ging durch die Tür. Sophia wurde aufgeregter. „Was passiert da? Warum sollte Mutter und Clara nicht in das Haus gehen?“ Sie sah sie nicht mehr, sie sah nur die Menge, die näher zum Eingang hin drückte. Sophia entdeckte einen Apfelbaum auf der anderen Straßenseite, gegenüber dem Haus. Sie lief los, rannte die Straße herunter, griff einen der unteren Äste und schwang sich nach oben. Dann kletterte sie den Stamm hoch und fand eine Stelle, wo sie die Blätter des Baums beiseite schieben und so ins Hauptzimmer des Hauses sehen konnte. Sie sah eine Gruppe von Priestern und Priestergehilfen in einer Reihe stehen. Alle mit ihren typischen schwarzen Gewändern, einem Käppchen auf dem Kopf und sehr ernsten Mienen. Sie sah ihre Mutter zur Tür hineinkommen, sah, wie sie den Priester anschaute und etwas sagte, aber konnte das nicht hören und auch sonst nicht genau erkennen, was vor sich ging.
Anna stand im Zimmer, sie schaute nach links, wo der Priester mit seinen drei Gehilfen stand und alle dunkel und ernst schauten. Clara sank an der Tür in die Knie und fing an zu beten. Anna schaute dem Priester streng in die Augen: „Was ist hier los?“ Der schaute grimmig zurück, bewegte sich aber ansonsten nicht. Sie blickte zum Bett. Dort lag Lidia zusammengekauert und hielt sich die Hände über den Kopf. Anna ging zum Bett und setzte sich an den Rand. Sie legte eine Hand auf Lidias Rücken. „Lidia! Lidia, was ist los?“ „Geh bitte weg“, sagte sie leise. „Lidia, sag mir, was passiert ist.“ Lidia blieb stumm. Anna drehte sich zum Priester: „Was ist mit ihr?“ Der Priester deutete fast unmerklich mit seiner Nase zum Bauch von Lidia. Anna schloss ihre Augen und atmete einige Male. „Lidia …“ „Ich bin schuldig“, sagte Lidia ganz leise, „ich bin schuldig.“ Anna legte sanft die Hand auf ihren Rücken. „Nein, Lidia, das bist du nicht …“ „Doch. Ich bin mitgegangen. In die Berge. Ich durfte nicht alleine mit ihm dahin. Aber ich bin mitgegangen. Er hat mich so gedrängt … Ich wollte nicht …“ „Du hast nicht geschrien?“ „Nein“, sie wimmerte leise. Anna umarmte sie. „Du wirst ihn heiraten müssen. Er darf dich nicht verstoßen.“ Der Priester sagte von hinten: „Er will sie nicht.“ Anna: „Er muss.“ „Nein. Sie ist verlobt.“ Annas Gesicht färbte sich rot. Sie wandte sich zu Lidia: „Lidia, du bist … verlobt?“ Lidia nickte und fing an zu weinen: „Ich wusste das gar nicht. Meine Mutter …“ Anna drehte sich zur Tür, wo Clara die Hände vor ihr Gesicht nahm.
Sophia versuchte von dem Apfelbaum aus irgendetwas von dem mitzubekommen, was in dem Zimmer vor sich ging, aber es gelang ihr nicht. Ihre Anspannung stieg, die Menge wurde lauter und aufgeregter, drängte noch mehr zum Haus hin. Sie sah, dass einige schwere Säcke dabei hatten. „Was ist da drin?“, dachte sie. Einige hatten einen Stein in der Hand. „Warum?“ Sie verstand nicht.
Anna stand auf und wandte sich zum Priester: „Wir werden einen Mann für sie finden.“ Der Priester schüttelte den Kopf: „Das ist zu spät. Es war schon zu spät, als das auf dem Berg passiert ist. Sie hätte schreien oder weglaufen müssen. Das Gesetz ist ganz klar in dem Fall. Das Böse muss aus unserer Mitte ausgerottet werden.“ Der Gehilfe neben ihm nickte zustimmend. Anna ging auf den Priester zu und schaute ihn eindringlich an: „Ja! … Durch die ganze Gemeinde. Das bin ich auch. Und ich mache das nicht. Mose sagt auch: Du sollst nicht töten!“ „Außer nach dem Willen Gottes.“ „Du sollst nicht töten ist eines unserer Grundgesetze.“ „Wenn das Gesetz befiehlt, dann töten wir.“ „Klophas hätte dir das nicht durchgehen lassen! Stell dir vor, er wäre jetzt hier in diesem Raum, vor dir. Würdest du das jetzt sagen?“ „Klophas ist nicht mehr hier.“ „Doch, ist er“, dachte sie, „er lebt in den Herzen der Menschen. Deswegen waren so viele von anderen Dörfern draußen, weil von diesem Dorf nicht genügend gekommen wären.“ Sie schaute den Priester lange an. „Schau dir Lidia an: Ist sie das Böse, das du ausrotten willst? Auge um Auge, Zahn um Zahn. Was hat sie getan, dass du sie …“ Er schüttelte den Kopf: „Das Gesetz ist klar!“ Er verschränkte die Arme. Anna wurde lauter: „Wenn Klophas jetzt hier wäre, er würde dir die Leviten lesen.“ „Er ist nicht mehr hier.“ „Er würde eine Lösung finden. Er hat immer gesagt, dass nicht die Menschen das Böse sind, sondern ihre Taten ––– sie wusste nicht einmal, dass sie verlobt ist, sie wusste nicht, dass ihr der Mann Gewalt antun würde.“ „Das Gesetz ist klar!“ „Und wer ist der Mann? Wer hat das getan?“ Der Priester atmete tief ein: „Tomas, vom Ziegenbauern.“ „Tomas? Er ist 16. Er ist so alt wie Lidia. Und was passiert mit ihm?“ „Er bezahlt die 50 Silberlinge, er hat nicht gewusst, dass sie schon verlobt ist.“
Sophia wurde es im Baum unheimlich. Die Menge wurde immer lauter und aufgeregter. Ein Bauer bahnte sich mit seinem Sohn seinen Weg durch die Menge. „Tomas“, dachte sie. „Was macht der dort?“ Sein Vater schaute noch missmutiger als sonst und schob Tomas an der Schulter vor sich her. Der schaute beschämt zu Boden. Sie mochte ihn nicht besonders, aber andererseits war er auch nicht so wild und unberechenbar, wie seine älteren Brüder, die nachts durch die Berge strichen und sich dort mit den Jungs aus den anderen Dörfern prügelten. Er war eher still. Mit seinen Brüdern hatte ihre Mutter schon oft geschimpft, weil sie irgendetwas kaputt gemacht hatten, oder hatte sie von irgendeinem Garten oder Hinterhof gejagt. Sie sah, wie Tomas mit seinem Vater auf die Tür des Hauses zuging und hereingelassen wurde. „Warum?“, fragte sie laut, ohne dass es jemand hörte, „was machen die jetzt da?“
„Wo ist Tomas?“, fragte Anna den Priester, „ich will ihn sprechen!“ „Er kommt gleich. Sein Vater holt ihn. Er meint, er muss sich das Ganze anschauen.“ Anna bekam einen Stich in den Magen und hielt sich den Bauch. „Das kann nicht sein. Ich glaube nicht, dass das hier gerade passiert“, dachte sie. Vom Eingang her hörte man Lärm. Der Ziegenbauer stieß seinen Sohn ins Zimmer, sodass er fast über Clara stürzte. Anna kam drohend auf ihn zu. „WARUM HAST DU …?“ Tomas schaute sie kurz an, verdrehte die Augen und übergab sich vor ihr. Er sank in die Knie. Anna fasste ihn mit einer Hand an der Stirn: „Warum hast du das getan?“ „Verzeih mir! Bitte. Ich wollte das nicht so.“ Er schloss die Augen und sank zusammen. Anna machte einige Schritte zurück und setzte sich auf das Bett. „Wir können die Verlobung auflösen“, sagte sie leise, aber mit viel weniger Kraft als zuvor. „Es ist zu spät“, sagte der Priester, „und gerade du …“ Er schaute sie eindringlich an. „… gerade du solltest wirklich vorsichtig sein, was du in diesem Fall hier tust –– gerade in so einem Fall.“ „Vor … sichtig?“, fragte Anna. „Ja! Wie alt ist Sophia genau? Und wann hast du Joachim geheiratet? Er hat mir das nie genau gesagt. Ich kann mich erinnern, dass er mir sogar ausgewichen ist in der Frage.“ Anna sah ihn verwirrt an. Der Priester machte ein Zeichen zu seinen Gehilfen, dass sie Lidia nehmen sollten. Anna stand auf, wollte sie davon abhalten, aber einer der Gehilfen stellte sich ihr in den Weg und hielt sie fest. Ein anderer band die Hände von Lidia mit einem Strick zusammen. Dann brachten sie sie aus dem Zimmer.
Sophia hielt es nicht mehr auf dem Baum aus. Sie kletterte herunter und sprang vom untersten Ast auf den Boden. Dann lief sie in Richtung der Menschenmenge. In diesem Augenblick sah sie die Priestergehilfen die gefesselte Lidia aus der Tür ziehen. „NEIN!“, schrie Sophia, aber niemand bemerkte sie, weil alles wild durcheinander lief und schrie und drückte. „NEIN – NEIN – NEIN – NEIN!“ Sie spürte Angst, ihre Brust klopfte, das Atmen fiel ihr schwerer. Die Menschenmenge nahm die Gehilfen mit Lidia in sich auf und folgte ihnen zu Dorfplatz. Sophia konnte nicht erkennen, was auf dem Platz vor sich ging, sie folgte der Menge und versuchte zu entdecken, was sie konnte. Sie sah einen Pfosten, mitten auf dem Platz, der vorher nicht da gestanden hatte. Sie lief weiter, fast benommen, plötzlich schlug ihr eine Hand auf die Schulter und hielt sie fest. Eine dunkle Männerstimme sagte: „Kein Weibsvolk!“ Ein Mann riss sie herum und stellte sich ihr in den Weg. Sophia blickte instinktiv nach links und nach rechts und sah, dass einige Männer dort eine Kette gebildet hatten, um sicherzustellen, dass nur zum Platz konnte, wer nach den Regeln auch durfte. Sie war alt genug, aber ein Mädchen.
Anna saß benommen auf dem Bett. Ein Engel erschien hinter ihr. Sie konnte ihn deutlich spüren. „Anna! Du musst jetzt gehen. Anna!“, sagte er mit einer warmen, leisen, aber den ganzen Raum ausfüllenden Stimme. Sie wachte auf. Sie schüttelte den Kopf und schaute den Priestergehilfen an, der immer noch vor ihr stand. Sie schloss die Augen und sagte: „Ich habe deinen Vater zweimal von den Römern ausgelöst.“ Dann machte sie die Augen auf und schlug ihm mit der Hand leicht an die Wange. Sie drängte ihn zur Seite und rannte aus dem Haus, der Menge hinterher, zur Platzmitte, wo der Pfosten stand, an den Lidia gerade festgebunden wurde. Ein Mann stellte sich ihr in den Weg: „Keine Frauen!“ Sie antwortete laut: „Ich bin die Frau von Klophas. Ich darf dorthin! Ich war dort schon viele Male und du weißt das!“ Er ging zur Seite und Anna lief nach vorne, drängte sich in die erste Reihe und sah dort die zusammengekauerte, am ganzen Körper zitternde Lidia, die ihren Kopf an den Pfosten drückte. Anna schaute wild um sich, was sie jetzt vielleicht noch tun konnte –– irgendetwas –– sie rief innerlich nach ihrem Engel, aber der blieb still, fast als würde sie die Stille hören ––. Jemand schrie: „Steinigt sie!“ und dann hörte sie eine Mädchenstimme markerschütternd „NEIN!“ schreien, sie schaute nach links und erstarrte.
Einige Augenblicke vorher sah Sophia neben ihr einen Jungen aus dem Kreis nach draußen gehen, weg von der Menschenmenge. Sie wandte sich von dem Mann ab, der sie aufgehalten hatte, und ging hinüber zu ihm. „Hallo, Levi!“ Sie lief neben ihm her. „Warum gehst du weg?“ „Ich will das nicht sehen. Mein Vater wollte, dass ich das sehe, aber ich will nicht.“ „Gib mir deine Kutte!“ Er hatte einen grauen Ziegenhirtenmantel an. „Du spinnst doch, warum? Warum soll ich dir meine Kutte geben?“ „Ich gebe sie dir morgen wieder zurück.“ „Nein, ich gebe dir meine Kutte nicht.“ Sophia zog ihn hinter eine Hauswand. „Bitte!“ Er schaute sie verwirrt an. Sie lächelte: „Ich gebe dir einen Kuss dafür!“ Er schaute sie erstaunt an. „Echt?“ „Ja!“ „Nein – echt?“ „Jaaa.“ „Gut.“ Er kam mit dem Kopf näher. „Erst die Kutte!“ Er zog sie aus und gab sie Sophia, die sie gleich überzog. Er kam wieder näher und Sophia fasste ihn mit beiden Händen am Kopf, drehte ihn, gab ihm einen Kuss auf die Wange und lief davon. Er rief ihr hinterher: „Das war kein Kuss!“ „Doch! Das war ein echter Kuss.“ Sie rannte Richtung Dorfplatz. Ihr Herz schlug bis zum Hals hinauf. Sie reihte sich hinter einen Mann ein, der auch zum Platz wollte, und versuchte, keinem Wächter in die Augen zu schauen. Es gelang ihr. Sie kam durch die Kette und drängte sich durch die Menschenmenge nach vorne, immer weiter, bis sie hinter der ersten Reihe stand und Lidia sah, wie sie zitterte und voll von Angst war. Sophia erschrak. Sie konnte Angst anders sehen als andere Menschen. Manchmal war sie grauenvoll anzusehen, ein chaotisches Gestrüpp aus Metalldornen, aber so wie bei Lidia jetzt, das hatte sie noch nicht gesehen. Es war ihr, als würde Lidias Angst sie selbst packen und einfrieren lassen. Dann sah sie ihr in die Augen und in diesem Moment stieg eine gewaltige Wut in ihr auf, sie konnte sie kaum halten, die Wut presste ihren Hals herauf. Ein Mann gegenüber von ihr schrie: „Steinigt sie!“ und dann konnte sie die Wut nicht mehr halten, sie ließ sie ihre ganze Kraft nach außen: „NEIN!“ schrie sie so laut sie konnte und rannte in den Kreis, auf Lidia zu. „SOPHIA!!!“, schrie ihre Mutter und rannte ihr durch den Kreis entgegen. Sie fing Sophia kurz vor Lidia ab, griff sie so fest sie konnte und trug sie aus dem Kreis, durch die Menschenmenge, die ihnen Platz machte. „Weg! Nur weg!“, dachte sie, sonst nichts. Sophia strampelte und versuchte sich zu befreien. „Lass mich los! Lidia! Sie hat furchtbare Angst. Wir müssen ihr …“ Sie sah über der Schulter der Mutter, wie ein Stein Lidia direkt auf ihr Auge flog und Blut in alle Richtungen spritzte. Sophia stieß einen langen Schrei aus. Ihre Mutter sah sich kurz um, sah Lidia blutig von den Steinen zusammen sinken und drückte Sophia mit dem Gesicht an ihre Brust. So liefen sie weiter. Sophia wimmerte: „Warum Lidia? Warum? Warum das?“ „Sie war mit einem Mann zusammen.“ „Nein! Das kann nicht sein. Ich kenne sie. Und du auch.“ „Sie war!“ „Du lügst. Das kann nicht sein. Nicht Lidia. Du kennst sie doch.“ Anna schwieg. „Nicht Lidia! Du kennst sie.“ „Sie trägt ein Kind unter ihrem Herzen.“ „Das kann gar nicht sein. Lidia macht so etwas nicht“, rief Sophia verzweifelt. „Tomas hat sie gezwungen.“ „To…“ Sophia erstarrte. Ihre Mutter drückte sie stärker an sich und ging mit ihr in Richtung ihres Hauses. Sophia stieß wieder einen lauten langen Schrei aus, und dann noch einen, und noch einen, und noch einen. Ihre Mutter kniff ihre Augen zusammen, Tränen rannten ihr über das Gesicht. Sie hielt Sophie fest in ihren Armen und die schrie weiter.