Amon stieß einen langen Schrei aus, sprang über einen Baumstamm und versuchte, seinen Bruder Gallum einzuholen. Der rannte einen kleinen Hügel hinauf und wedelte dabei lachend mit Amons Schuh. Er kletterte einen Felsen hoch, stand breitbeinig oben und hielt Amon auffordernd den Schuh entgegen. Der kam außer Atem und mit knallrotem Kopf den Hügel hinauf. Er schäumte vor Wut: „Gib mir meinen Schuh zurück! Das ist nicht lustig. Du Bergaffe!“, schrie er zu Gallum hinauf und begann, den Felsen hochzuklettern. Gallum lachte, und in dem Augenblick, in dem Amon gerade sein Bein erreichen konnte, sprang er vom Felsen hinunter und landete direkt vor Nahor, der ihnen gefolgt war und auch über das ganze Gesicht lachte. „Das ist nicht lustig!“, rief Amon den beiden zu, während er wieder herunterkletterte. Unten versuchte er sofort, seinen Schuh zu greifen, aber Gallum zog ihn weg, versteckte ihn hinter seinem Rücken und warf ihn einen Augenblick später zu Nahor. Der wedelte mit dem Schuh vor Amons Gesicht, als plötzlich alle drei erstarrten und den Hügel hinunterschauten.
„War das …?“, fragte Nahor, und Amon rief: „JA! Das war ein Wolf.“ Nahor ließ den Schuh fallen, und alle drei rannten den Hügel hinunter Richtung Herde, und tatsächlich, ein Wolf hatte ein Schaf gepackt, das sich ein wenig von der Herde entfernt hatte. Vier andere Wölfe warteten im Halbkreis dahinter, fletschten die Zähne und knurrten drohend, als die drei angerannt kamen. Gallum erreichte die Wölfe zuerst. Noch im Rennen zog er ein Messer aus seiner Hose und sprang ohne zu warten mit einem großen Satz direkt auf den Rücken des Wolfs, der sich in das Schaf verbissen hatte. Er schlug das Messer mit voller Kraft direkt zwischen die Augen des Wolfs, der aufjaulte und beim Aufspringen Gallum mit sich riss. Gallum schaffte es, auf dem Wolf zu bleiben, drückte ihn auf den Boden und schlug das Messer ein zweites Mal in den Kopf des Wolfs, dann noch einmal und noch einmal.
Die anderen Wölfe griffen an. Amon zog seine Steinschleuder aus der Tasche und traf den ersten anrennenden Wolf am Kopf. Der jaulte laut auf. Er schoss gleich noch einmal und traf ihn wieder. Der Wolf taumelte. Nahor hatte einen Stein aufgehoben, warf ihn und traf damit einen der anderen Wölfe. Er rannte zu einem der Steinhaufen, die er immer anlegte, wenn sie irgendwo Rast machten. Dort nahm er weitere Steine und warf einen nach dem anderen. Jeder Stein traf. Er und Amon verfolgten die davonrennenden Wölfe noch bis zum nächsten Hügel. Sie sahen den Wölfen hinterher, bis sie in einem Buschwerk verschwanden.
„Wir brauchen Hunde!“, sagte Amon. „Wir müssen uns Hunde erziehen, starke, schnelle und schlaue Hunde.“ Nahor lachte ihn aus: „Starke, schnelle und schlaue Hunde, die uns gehorchen: Wo willst du die finden? Hunde, vor denen Wölfe Angst haben?“ Amon nickte: „Ja, das muss es geben.“ „Dann braucht man uns Schäfer ja nicht mehr.“ „Doch! Um die Hunde zu erziehen.“ Nahor schaute ihn erstaunt an und nickte dann: „Mhmh. Vielleicht.“ Er schmunzelte. Als sie zu Gallum zurückkamen, war der schon dabei, den Wolf zu häuten. Der Kopf lag abgeschnitten im Sand. Dem Schaf hatte er den Hals aufgeschnitten und ließ es ausbluten. Nahor kniete neben dem Schaf nieder, legte beide Hände an dessen Seite und fing an zu beten.
„Ich hole die Schafe zusammen“, meinte Amon und ging ein Stück weiter den Hügel hinunter. Man hörte einen lauten Pfiff, und nach einigen Augenblicken kam Amon mit der Schafherde im Gefolge zurück. Er setzte sich neben Nahor und sagte: „Mit zwei Hunden könnten wir eine viel größere Herde haben.“ Nahor nickte: „Ja, das wäre möglich. Aber wo gibt es solche Hunde? Und wie erziehen wir sie, auf eine Herde Schafe aufzupassen?“ Gallum hatte inzwischen den Wolf zerlegt und die Teile ins Gras gelegt. „Ich mache ein Feuer. Gibst du mir deinen Stein, Amon?“ Amon zog einen Feuerstein aus seiner Hosentasche und warf ihn zu Gallum. Der fing ihn mit dem Fuß auf, balancierte ihn aus und kickte ihn so in die Luft, dass er ihn mit der Hand bequem fangen konnte. Er grinste breit. Amon schüttelte den Kopf und wandte sich Nahor zu: „Lass uns das Schaf häuten und aufhängen, das geben wir dem Wirt, wenn wir zurückkommen.“ Der nickte.
Eine halbe Stunde später saßen alle drei um ein großes Feuer. Gallum ordnete die brennenden Äste und Zweige mit einem Stock und legte neue dazu. „Bald können wir essen. Ich freue mich schon.“ „Ich esse kein Wolffleisch. Ich bleibe bei meinen Datteln“, meinte Amon. Gallum verdrehte die Augen. Nahor fragte Amon: „Hat die falschen Hufe, nicht?“ „Und ist kein Wiederkäuer.“ „Dann lass eben die Hufe und den Magen weg“, knurrte Gallum dazwischen, „würdest du das gute Fleisch hier verrotten lassen?“ „Es gibt viele Tiere, die das fressen, von dem Wolf wären in zwei Tagen nur noch Knochen übrig.“ Amon schaute Gallum streng an: „Das ist kein Fleisch für Menschen.“ Der schaute gleichgültig zurück: „Es ist ziemlich zäh, okay, aber mit einer guten, heißen Glut bekommt man das hin. Seit du letzten Herbst in Jerusalem warst, bist du wirklich seltsam mit manchen Sachen.“
Nahor legte Gallum eine Hand auf die Schulter: „Es ist unsere Tradition in Judäa, dass wir nur bestimmtes Fleisch essen. Es halten sich nur nicht so viele daran … nicht mehr. Früher war das anders.“ Gallum: „Wir leben heute und nicht früher. Was ist eigentlich passiert in Jerusalem, dass du so viel geändert hast in deinem Leben, Amon?“ Nahor nickte: „Ja, das wüsste ich auch gerne. War das der Priester, den du getroffen hast?“ Amon nickte: „Mhmh. Simeon.“
Nahor schaute ihn an: „Und? Du triffst einen Priester und der erzählt dir etwas, und das glaubst du alles? Amon, das bist nicht du. Du willst doch sonst alles genau wissen und glaubst nichts so einfach.“ „Eben deswegen. Er wusste so viel. Es war so logisch, was er gesagt hat. Er konnte mir jede Frage beantworten, die ich jemals hatte. Einfach so. Er hat kurz in die Luft geschaut und mir dann Antworten gegeben, die ich sofort verstanden habe. Wir sind über viele Stunden an einem Teich gesessen und haben geredet.“ „Wieso hat er das gemacht? Ein Priester aus Jerusalem? Unser Priester sagt zu mir nur, dass ich am Samstag in die Synagoge kommen soll, wenn ich ihn etwas frage.“
„Simeon ist anders. Er weiß alles, glaube ich, ziemlich alles, und er kam auf mich zu, mitten auf der Straße, und wollte mit mir sprechen.“ Gallum schaute ihn gelangweilt an: „Weil du etwas Besonderes bist, hm? Ein Schafhirte aus Bethlehem? Hey! … Bruder, bleib auf dem Boden.“ Amon schloss die Augen.
Keiner der drei sprach für eine lange Zeit. Dann hob Amon den Kopf und öffnete die Augen wieder: „Der Messias kommt! Das hat er mir gesagt ––– und dass ihn nur die einfachen Menschen verstehen werden ––– die, die nach ihrem Herzen leben, die, die mit der Erde verbunden sind ––– und er kommt sehr bald, hat er gesagt.“ „Und das hast du nicht nur einfach geglaubt, das hast du verstanden? Wie kannst du so etwas verstehen?“, fragte ihn Nahor neugierig.
Amon nickte. „Wir haben alles verloren, hier in Judäa ––– es gibt keine Propheten mehr ––– es ist nicht mehr echt, was unsere Priester sagen, sie wollen uns erziehen und Vorschriften geben, aber sie verstehen die Gesetze und das heilige Buch nicht mehr ––– sie hören die große Stimme unserer Vergangenheit nicht mehr ––– und die Menschen lieben die Gesetze nicht mehr, die uns Moses gegeben hat, sie haben vergessen, was sie bedeuten ––– es gibt keine unbefleckten Geburten mehr ––– und überall sind Menschen besessen von allen möglichen Dämonen, in jedem Dorf hast du Leute …“ Nahor drückte eine Hand sachte auf die Schulter von Amon. Dann nahm er beide Hände auf die Brust und schloss seine Augen. Nach einer Weile fragte er ohne die Augen zu öffnen: „Unbefleckte Geburten? Warum? Warum ist das wichtig? Was haben wir da verloren?“
„Der Messias, wenn er kommt, kann nicht in einen Körper geboren werden, der unrein ist. Und auch seine Mutter muss aus einem reinen Körper geboren sein.“ Nahor nickte: „Ja. Das verstehe ich.“ Gallum: „Was ist das, eine unbefleckte Geburt?“ Amon: „Das fängt damit an, dass das Kind rein empfangen wird.“ Gallum schaute ihn missmutig an. Amon fuhr fort: „Das hat mir Simeon erklärt. Er hat gesagt, es ist die größte Freude, die du dir vorstellen kannst, wenn ein Kind bei der Empfängnis über die große Schwelle ins Leben tritt. Für Vater und Mutter ist es eigentlich wie wenn du deinen besten Freund wieder triffst, nach vielen Jahren, es ist so viel passiert inzwischen, und er steht vor dir und du erkennst, er ist es! Und das Ganze noch 100 Mal stärker. Aber wir erleben das nicht direkt. Unser Körper schon, er ist voller Vorfreude und macht sich bereit, wenn ein Mensch in ihm durch dieses Tor schreiten soll, wenn er eingeladen wird von einer Frau und einem Mann. Das ist ein überwältigendes Gefühl, das durch den ganzen Körper wogt, beim Mann ein paar Sekunden lang, hin und her im ganzen Körper, ein Freiheitsgefühl, und bei der Frau, hat Simeon gesagt, dauert es noch viel länger an. Und in diese Freude unseres Körpers hinein tritt ein Kind ins Leben, in diese Willkommensfreude der Eltern ––– außer ––– außer die Eltern genießen das für sich alleine, und nicht mit dem Kind zusammen. Und das ist dann kein vollkommenes Willkommen, weil die Freude ja für das Kind da ist, wie für den Freund, der nach langer Zeit wiederkommt.“
Nahor meinte erstaunt: „Ja. Das ist kein vollkommenes Willkommen, das verstehe ich.“ Gallum: „Und das muss es auch nicht sein! Das klingt ja wie, als wäre es falsch, das zu genießen.“ Amon schüttelte den Kopf: „Nein, gar nicht. Es ist eine Ausnahme, für dieses Mal. Der Messias kann nur so ins Leben kommen.“ Nahor: „Die Menschen haben vergessen, wie das geht mit dem Willkommen heißen. Ich habe mal gehört, dass in Urzeiten alle Geburten rein waren, dass das ganz normal war, aber ich habe nie richtig verstanden, was damit gemeint ist.“ Amon: „Und jetzt kommt der Messias, um uns das zurückzubringen, was wir verloren haben. Wir brauchen ihn jetzt, bevor wir alles verloren haben und es nicht wieder zurückholen können!“
Nahor und Gallum schwiegen. Gallum stocherte mit seinem Stock im Boden und meinte nach einer Weile: „Aber zuerst brauchen wir zwei Hunde.“ Nahor und Amon schauten sich an und fingen an zu lachen. „Ja, du hast Recht, Gallum! Zuerst brauchen wir zwei Hunde.“ Gallum holte ein Stück Wolffleisch aus dem Feuer und bot es Nahor an. Der nahm es mit einem Brotfladen und biss hinein. Die Sonne ging unter, und alle schauten über die Schafherde hinweg ins Tal, das in wunderbaren Farben unter einem Abendrothimmel glänzte. Gallum legte Amon eine Hand auf die Schulter. Der steckte sich eine Dattel in den Mund und fing an zu kauen.