
Der Hof und die Schreinerei von Josef lagen ein wenig außerhalb von Nazareth in einem Tal, das ein kleiner Bach in der Mitte teilte. Auf dem Weg dorthin kam man an einem verlassenen Bauernhof vorbei, mit verfallenen Ställen, einer überwucherten Wiese und einem verdorrten Rosengarten. Josefs Hof erschien im Vergleich dazu als das gerade Gegenteil. Gepflegte Bäume, eine große, gemähte Wiese und der Hof schienen eine harmonische Einheit zu bilden. In einem geschwungenen Bogen führte der Weg hinauf zum Hofplatz. Links und rechts vom Weg wuchsen Rosen in verschiedenen Farben. Das erste Gebäude auf der linken Seite war ein Stall, wo ein Ochse und ein Esel zufrieden nebeneinander Heu aus einer Krippe fraßen.
Daneben stand die Schreinerei, in Holz gebaut, zwei Stockwerke hoch, und neben ihr einige geordnete Stapel von Holzbrettern und -balken, Haufen von Nägeln, Wurzeln und allem Möglichen, das sich eventuell für irgendetwas brauchen ließe. Das eigentliche Wohnhaus stand auf der rechten Seite und dahinter sah man ein höheres, schlankes Holzhaus mit einem Turm, das Tempelhäuschen, wie es Josef nannte. Ein S-förmiger Steinpfad führte dorthin.
Vor der Schreinerei stand eine Werkbank, auf der Klophas, ein Junge von etwa 15 Jahren, ein Schaukelpferd eingespannt hatte, das er mit einer Feile bearbeitete. Alle paar Augenblicke trat er zurück und betrachtete eine Stelle des Pferdes aus verschiedenen Blickwinkeln, ging dabei auf die Knie oder beugte sich über, tastete sie ab und machte dann wieder einige Striche mit der Feile. Die Tür hinter ihm öffnete sich und Josef kam heraus. Er stellte sich hinter Klophas und beobachtete, was seine Hände taten, bis der das bemerkte. Er drehte sich abrupt um, stand aufrecht hin und schaute Josef an. Der lächelte ihn an, umfasste das Pferd mit seinen Händen und schloss die Augen. Dann strich er mit beiden Händen um das ganze Pferd herum, drehte sich zu Klophas und nickte ihm zu. Klophas bekam Herzklopfen. „Ja?“ fragte er aufgeregt. „Ja.“, antwortete Josef. Klophas: „Aber einige Stellen sind noch nicht ganz im Fluss.“ „Sicher. Aber ich denke, du weißt bei jeder, was fehlt.“ Klophas lachte: „Und danach kann ich es dann ölen?“ „Wenn du fertig mit den fehlenden Stellen bist, kannst du es ölen.“ „Ja! Und dann male ich …“ Josef lachte und legte ihm eine Hand auf die Schulter: „Komm! Es ist Zeit zu beten.“
Klophas legte die Feile vorsichtig auf die Werkbank ab und folgte Josef auf dem Steinpfad hinter das Wohnhaus. Er betrat nach ihm das Tempelhäuschen. Drinnen war man in einem großen Raum, der bis zum Dach reichte. An der höchsten Seite stand eine Altarwand mit vielen unterschiedlichen Bildern, leuchtenden Steinen, gemalten Holzfiguren und überall dazwischen kleine Fackeln. Mit einem Feuerstein zündete Josef ein trockenes Reisig an und damit die verschiedenen Fackeln, bis die ganze Wand hell erleuchtet war.
Josef kniete nieder, Klophas neben ihm. Josef sprach in sanftem Ton: „Mein Herr und Gott! Du warst in den Anfängen bei dem Gott, Du hast die Zeit geordnet und die Ewigkeiten, Du hast alles gemacht, was gemacht worden ist, und nichts ist gemacht, was nicht von dir gemacht worden ist. In dir ist das Leben und das Leben ist das Licht der Menschen. Und dein Licht scheint in der Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht ergriffen. Amen.“ „Amen“, wiederholte Klophas. Dann legten beide ihre Stirn für einige Minuten auf den Boden und verharrten in Stille. Josef erhob sich, Klophas folgte ihm. Sie verneigten sich gegen die Altarwand und gegeneinander und Klophas wandte sich zur Tür.
Fast am Ausgang blickte er noch einmal zur Wand. Sein Auge blieb an einer kleinen hölzernen Figur hängen, die rechts unten in der Wand in einem Fach lag und einen schön glänzenden blauen Stein neben sich hatte. Er stutzte: „Warum liegt diese Figur? Alle anderen stehen.“ Josef antwortete ruhig: „Weil sie nie stehen gelernt hat.“ Klophas: „Das ist ein Kind, das früh gestorben ist, oder?“ Josef durchzuckte ein Schmerz, er schloss die Augen. Nach einer Weile öffnete er sie wieder und sagte zu Klophas: „Ja, genau. Er hat nie stehen gelernt. Er ist nie geboren.“ Klophas drehte sich zur Tür und ging hinaus.
Josef glitt auf seine Knie und beugte sich nach vorn. Ein tiefer Schmerz durchzog seinen Bauch. Er atmete ein und aus und auf einmal befand er sich auf einem hohen Stein mit einer weiten Aussicht. Er schaute an sich herunter und sah den Körper eines Jungen, vielleicht zwei Jahre älter als Klophas. Er breitete seine Arme aus, erhob seinen Kopf zum Himmel und setzte an mit allem, was er hatte, einen Schrei bis zum Horizont zu schicken. Da hörte er hinter sich eine Mädchenstimme: „König Josef.“ Er drehte sich um. Eine Mädchenstimme hier in der Einsamkeit? Wie war das möglich?
Aber tatsächlich, da stand sie, Talia, oder so, dachte er, die Tochter einer Familie auf der Durchreise. Er hatte die Familie ein paar Tage davor bei ihrem Zelt gesehen, am Bachlauf, kurz vor dem See. Und da hatte er auch sie gesehen, so wie er sie niemals wieder in seinem Leben vergessen würde. Sie badete mit ihrer Schwester und als sie ihn bemerkten, lächelte sie ihn an und er war erstarrt. Sie lächelte deutlicher, ihr Mund öffnete sich leicht und gerade als er weglaufen wollte, stand sie aus dem Wasser auf und stand vor ihm, einen Steinwurf weit weg, vollkommen nackt. Er schaute und schaute, er konnte nicht wegschauen. Sie blieb stehen und sah ihm in die Augen. Er konnte sich nicht bewegen und erst als die Mutter der beiden sie rief und sie sich wegdrehte, konnte er sich von dem Bann befreien und lief davon. Das war Talia, oder so.
Und jetzt war sie hier. „König Josef“, sagte sie noch einmal und kam weiter den Felsen herauf. „Ich bin kein König“, rief er ihr zu. „Aber du wirst mal einer sein!“ „Es gibt keine Könige mehr in Israel, seit die Römer hier sind.“ „Mein Vater meint, dass es immer noch Könige gibt und dass die Römer nicht verbieten können, dass es Könige gibt. Und er meint, dass du einer bist …“ Sie stand jetzt zwei Meter vor ihm und ging mit einem Grinsen auf die Knie. Josef: „Lass den Quatsch! Ich bin kein König und ich werde nie einer sein!“ „Wenn du das sagst, dann stimmt das auch. Du bist ja ein König. Könige sagen immer die Wahrheit.“ Sie lachte, zog ein ernstes Gesicht und sagte mit dunkler Stimme: „Und ich bin eine Edelfrau und will ein schönes Land von dir bekommen, über das ich gebieten kann. Deswegen knie ich hier vor dir.“ Er nahm ihre Hand und zog sie hoch: „Steh auf! Es gehört sich nicht für eine Edelfrau, den König zu verspotten.“ Er lächelte sie an und sie stand vor ihm hin. Ein warmer Strom durchzog ihn, sie stand so nahe bei ihm und kam sogar noch ein wenig näher. Sein Atem stockte und Herz klopfte wie vor einigen Tagen am Bach.
„Na, König, fürchtest du dich vor mir? Ich sehe dein Herz klopfen.“ „Siehst du nicht. Er fasste sich mit beiden Händen an die Brust und stellte sich aufrecht hin.“ „Deine Hände zittern.“ Er schaute sie an, sie zitterten leicht: „Überhaupt nicht. Vielleicht ein klein wenig …“ Sie zog eine Hand von ihm zu sich und schaute sie an: „Doch, ich sehe es ganz genau, da, sie zittert.“ Dann griff sie plötzlich die Hand stärker und drückte sie gegen ihre Brust: „Und jetzt? Zittert sie jetzt noch mehr?“ Er zog sie mit Kraft weg und schaute sie erstaunt an. „War das nicht schön?“ Er wollte den Kopf schütteln, aber schaffte es nicht. Er schaute gebannt auf ihre Brust. „War das nicht schön?“, fragte sie wieder und zog mit einer Hand ihr Hemd zur Seite, sodass er einen Busen sehen konnte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, er drehte sich um und wollte gehen, da rief sie: „Willst du sie nicht einmal anfassen?“ Er schloss die Augen und einen langen Augenblick später drehte er sich um und kam zu ihr. Er strich mit seiner Hand unter ihr Hemd und schaute ihr in die Augen. Sie strahlte ihn an und er fühlte, wie eine Kraft seinen ganzen Körper durchzog. Dann zog er sie mit Kraft an sich und küsste sie. Sie sanken zusammen hin.
Sechs Wochen später stand Josef vor seinem Vater, der auf dem Familienstuhl saß, einer Art von Thron, nur dass man ihn nicht so nennen durfte. Daneben saßen links und rechts seine Mutter und sein Onkel. Neben dem Onkel stand sein zwei Jahre älterer Cousin. Der Vater fragte mit kräftiger Stimme: „Josef, mein Ältester, was ist passiert?“ Josef schaute ihm direkt in die Augen, aber antwortete nicht. Der Vater wiederholte seine Frage: „Was ist passiert? Kann es sein, dass sie das Kind von dir hat?“
Josef blieb stumm, er dachte an Talia, wie sie zusammen, Arm in Arm, noch den Sonnenuntergang angeschaut hatten und er sie dann bis zum Bach gebracht hatte, wo ihre Eltern das Zelt hatten. Sie hatte ihn so eindringlich angeschaut, als er sich verabschiedete, so frei und dann hatte sie gelächelt, auf ihre Art, so wie nur sie lächeln konnte. Sie war eine so starke Frau, vielleicht zwei Jahre älter als er. Nein, das war heilig, das war nur für sie und ihn. Das konnte er nicht verraten.
Vater: „Ich frage kein drittes Mal!“ Die Mutter ging auf ihn zu und hielt seine Backen: „Josef, wenn sie einen Sohn bekommt, dann könnte er dein Thronfolger werden. Er ist dann der Älteste. Und das geht nicht.“ Josef schaute sie an. Sie fuhr fort: „Das geht nicht. Sie ist keine Jüdin. Das würde die königliche Linie brechen. Wir sind Nachkommen von David. David! Josef, hörst du mich?“
Josef nickte leicht, er verstand gut, was seine Mutter sagte, aber als König musste er auch immer seinem Herzen folgen, er durfte das Vertrauen in sein Herz nie verlieren, sonst würde er ein dunkler König werden. Und er durfte niemals lügen. Das hatte ihm sein Vater gesagt, als er noch sehr klein war. Er durfte auch nicht darüber sprechen, weil dies ein Geheimnis unter Königen war. Er schaute auf seinen Vater. Der schien ihn nicht zu bedrängen, wie seine Mutter oder sein Onkel.
Josefs Onkel stand auf und sagte zur Mutter: „Noch ist er nicht geboren, er kann also noch kein Thronfolger sein.“ Er schaute sie eindringlich an. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nicht in dieser Generation. Wenn wir das vermeiden können …“ Der Onkel: „Wenn er Josefs Sohn ist, dann können wir das nicht vermeiden.“ Josef schaute alarmiert auf: „Was kann man nicht vermeiden?“ Alle schwiegen.
Josefs Cousin unterbrach die Stille: „Cousin, es gibt Wege zu verhindern, dass das Kind geboren wird, oder lebendig geboren wird.“ Josef rief laut: „Nein! Das wäre ein Eingriff ins Schicksal. Wenn er der Thronfolger ist, was wäre das dann, wenn wir ihn töten? Es wäre schon Verrat, wenn wir nicht alles tun, um sein Leben zu schützen. Vater?“
Der Vater schaute ihn an und schwieg. Er hatte etwas Dunkles im Blick. Josef: „Nein, nein, nein! Das machen wir nicht.“ „Das ist nicht deine Entscheidung. Ich bin der König“, meinte sein Vater ruhig. Onkel: „Im Bauch der Mutter ist er noch kein Thronfolger, da gilt der Schutz noch nicht. Das wurde einmal vor fünf oder sechs Generationen in unserer Familie festgestellt. Rabbi … Ich habe seinen Namen vergessen.“ Mutter: „Gonispur ––– das hat damals zu tiefen Verwerfungen geführt. Das will ich nicht in unserer Generation.“
Vater: „Mein Sohn, wenn du nichts dazu sagst, nehmen wir an, dass du mit ihr zusammen warst.“ Josef: „Aber ––– aber du kannst kein Urteil fällen, ohne zu wissen, was war. Vater!“ Vater: „Nein, das kann ich nicht. Aber annehmen kann ich es, für uns alle.“ Josef: „Und was was passiert dann?“ Der Vater schwieg.
Es klopfte laut an der Tür am anderen Ende des Raums, dreimal. Alle schauten dorthin. Ein Diener öffnete und sagte laut: „Die Familie durchreisende Flussbewohner.“ Josef: „Sie haben doch auch einen Namen. Wie ist ihr Name?“ In dem Augenblick trat Talia aus der Tür und ging mit sicheren Schritten auf Josef zu. Ihre Eltern folgten sichtlich schüchterner langsam hinter ihr her. Sie blieb etwa fünf Meter vor Josef stehen und neigte ihren Kopf.
Josef erstarrte. Er hatte mit den Eltern gerechnet, nicht mit ihr. Aber so war sie, sie machte was sie wollte und alle ließen sie tun. Er hob vorsichtig die Hand, um zu grüßen, und brachte ein fast unhörbares „Willkommen!“ hervor. Dann drehte er sich zu seinem Vater, der ihn erstaunt anschaute. Er drehte sich wieder zu ihr. Sie kam näher, er wollte ihr noch zurufen, dass sie stehen bleiben sollte, aber es war zu spät. Sie hielt ihre Hände vor ihn und ging auf die Knie. Er nahm sie zitternd und sagte leise zu ihr: „Flieh! Ich finde dich.“ Sie schaute ihn erstaunt und verwirrt an, aber hielt weiter seine Hand.
Der Vater war aufgestanden. Onkel und Cousin hatten beide ihre Hand am Schwert und schauten ihn an. Josef drehte sich um: „Ich widerrufe meine Thronfolge! Es gibt keinen Grund ihr etwas anzutun.“ Der Vater rief den Wachen zu, dass sie alle aus dem Raum bringen sollten und jeweils zwei Wachen nahmen Talia, ihre Mutter und ihren Vater mit. Talia versuchte noch kurz sich festzuhalten, wurde aber von einer der Wachen losgerissen. Die Türen schlugen zu. Es war Stille im Raum.
„Ich habe meine Thronfolge widerrufen! Ich kann das tun! Ihr müsst sie gehen lassen“, rief Josef noch einmal. Der Vater setzte sich auf den Familienstuhl und machte Josef ein Zeichen zu ihm zu kommen. Der folgte und kniete vor dem Vater nieder. Vater: „Du kannst deine Thronfolge widerrufen. Das ist dein Recht. Ich gebe dir eine Woche Bedenkzeit, bevor deine Entscheidung gültig wird. Diese Zeit wirst du in deinem Zimmer verbringen.“
„Aber ihr könnt der Familie in der Zeit nichts tun. Versprich mir!“ Der Vater schwieg. Von der Seite sagte sein Onkel: „Du kannst die Thronfolge für dich widerrufen. Aber nicht für deinen Sohn.“ Der Vater wies mit dem Finger zwei Diener an, den Sohn zu seinem Zimmer zu begleiten. „NEIN!“, rief Josef als ihn ein Diener an der Schulter fasste, „NEIN, ihr tut ihnen nichts.“ Er machte sich los und schaute zum Vater. Der wiederholte sein Zeichen und die Diener brachten Joseph aus seinem Zimmer.
Joseph erwachte im Tempelhäuschen mit einem Bild von dem blutigen Zeltplatz am Bach, den er eine Woche später gesehen hatte. Sein Gesicht war schweißgebadet. Er atmete schwer.
Eine ruhige Stimme sagte von der Seite: „Klophas ist dein neuer Lehrling.“ Er drehte sich zu der Stimme und sah einen Engel mit gemütlich übereinander geschlagenen Beinen in einem lustigen und sehr schönen Gewand aus grünen, roten und blauen Tönen. Er schaute ihn mit warmen Augen an. „So können nur Engel schauen“, dachte Josef und er spürte, wie die Anspannung von ihm einfach abfiel, sein Atem ruhig wurde und er sich leicht fühlte. Er lächelte zurück und nickte.
Der Engel verschwand, Josef trocknete den Schweiß mit einem Tuch von der Stirn und trat aus dem Tempelhäuschen.
Er ging zu Klophas, der gerade dabei war, mit einem Tuch das Schaukelpferd zu ölen und stellte sich vor ihn. Er legte das Tuch weg, richtete sich auf und Josef sagte: „Ich nehme dich als meinen Lehrling in meinen Dienst. Willst du das?“ Klophas Herz fing an zu pochen, er wollte etwas sagen, aber konnte nicht. Nach einigen Augenblicken brachte er ein halbes „Ja.“ hervor. „So früh? Ich bin doch erst sechs Wochen da …“ „Genug“, antwortete Josef und lächelte. Dann ging er in die Schreinerei.
Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, sprang Klophas auf, rannte auf die Wiese, sprang auf einen großen Stein, von dem aus man das Tal und die Ebene davor sehen konnte und breitete die Arme aus und schrie aus Freude so laut er konnte.
